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Ineos-Boss Jim Ratcliffe und Marathon-Boss Eliud Kipchoge.

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Historiker Rudolf Müllner: "Der Lauf im Prater war radikal. Da hat eine Firma einen Weltrekord bestellt und gekauft."

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Wien – "Sie hätten die Hauptallee viermal betonieren und doppelt so viele Tempoläufer bezahlen können." Der globale Werbewert, den der britische Chemiekonzern Ineos mit der von Eliud Kipchoge realisierten Marathon-Challenge (1:59:41) im Wiener Prater erzielte, war "unbezahlbar", sagt Rudolf Müllner. Der Historiker und Sportwissenschafter sieht eine "totale Spektakularisierung des Sports", eine "konsequente, radikale Fortsetzung der Hyperkommerzialisierung", die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingesetzt hatte.

Auch Müllner saß vor dem TV-Gerät und war beeindruckt – von Kipchoges "toller Leistung" wie von den Tränen des Marathon-Organisators Wolfgang Konrad. "Das war ein strategisch perfekt geplanter und organisatorisch beeindruckend umgesetzter Coup", sagt er. "Aber er hat auch Anteile, die kritisierbar sind."

Den PR-Aufwand und die globale Wirkung des Ineos-Projekts würde Müllner mit Felix Baumgartners Red-Bull-Stratosphärensprung vergleichen. Doch dieser Sprung hatte mit klassischem Sport nichts zu tun. "Der Lauf im Prater war radikal. Da hat eine Firma einen Weltrekord bestellt und gekauft." Noch dazu ein Konzern, dessen den Brexit befürwortender Boss Jim Ratcliffe die britische Regierung "erbärmlich" nennt, weil ihm die umstrittene Fracking-Fördermethode in Nordengland – noch – untersagt ist.

Ineos ist auf einen Zug aufgesprungen, der etwa auch durch Katar und Saudi-Arabien fährt. "Sportswashing" ist die Lokomotive, der relativ junge Begriff meint Imagepolitur durch Sponsoring oder das Veranstalten großer Sportevents. Katar setzt seit langem darauf, hat schon diverse Titelkämpfe wie zuletzt die vielkritisierte Leichtathletik-WM veranstaltet und freut sich auf die Fußball-WM 2022. Saudi-Arabien zog nach: Wrestlingevents, dem italienischen Fußball-Supercup und einem Golf-Turnier der European (!) Tour soll bald auch der spanische Fußball-Supercup folgen. Darüber wird derzeit in Spanien heftig diskutiert.

Das Finanzkapital verleibt sich das kulturelle Kapital des Sports ein, speziell die Leichtathletik und hier den mythengeladenen Marathon. "Das Laufen gehört zum bewegungskulturellen Basisrepertoire der Menschheit und nicht dem Kalkül von Ineos", sagt Historiker Müllner und wünscht sich Folgendes: "Man müsste den Sport, zumindest die Leichtathletik, als Unesco-Weltkulturerbe schützen. Das wäre ein wichtiges Statement. Der Sport braucht neue ethische Regeln." 2017 hatte Sportartikelriese Nike in Kipchoges ersten 1:59-Versuch in Monza angeblich 30 Millionen Euro investiert. Ineos dürfte noch mehr lockergemacht haben. "Mit dem Geld", sagt Müllner, "könnte man in Kenia auch viele Schulen finanzieren." (Fritz Neumann, 15.10.2019)