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Elizabeth Warren: Studentin, Kellnerin, Lehrerin, Professorin, Senatorin ... und bald Präsidentin?

Foto: AFP/Getty

Es ist so heiß, dass die Leute Regenschirme aufspannen, um sich vor der Sonne zu schützen. Frühherbst in South Carolina, doch die schwüle Hitze drückt wie im Hochsommer. Elizabeth Warren scheint das nichts auszumachen. Sie federt die Stiege zur Bühne hinauf und wirkt so fit, dass man nicht glauben kann, dass sie 70 Jahre alt ist. Dann folgt sie dem ungeschriebenen Gesetz der US-Wahlkämpfe, nach dem man, um einen Draht zu den Wählern zu finden, gute Geschichten erzählen muss. Möglichst persönliche sollten dabei sein, so hat es Warren auch bisher immer in den TV-Duellen gehalten und sich damit – und mit ihrer Schlagfertigkeit – den Ruf als eine der Besten im Feld der Demokraten erarbeitet. Zu sehen sein wird das auch in der Nacht auf Mittwoch – da ist die nächste TV-Debatte der Demokraten angesetzt.

Doch besonders besticht Warren bei kleineren Auftritten. Sie erzählt aus ihrem Leben. Von ihrem Vater, der einmal Zäune, dann wieder Teppiche verkaufte; dann Hausmeister war, bevor er eine Herzattacke erlitt. Von der Mutter, die sich bis dahin immer nur um ihre vier Kinder gekümmert hatte, nun aber, im Alter von 50 Jahren, Geld verdienen musste.

Die Mutter, Pauline Herring, zog sich ihr bestes Kleid an, ging zum Personalgespräch bei der Kaufhauskette Sears, bekam einen Job und den staatlich garantierten Mindestlohn. Mit dem Lohn, sagt ihre Tochter, konnte sie ihr Haus retten und eine Familie über die Runden bringen. Heute dagegen reiche ein Vollzeitjob, der mit dem staatlich garantierten Mindestlohn dotiert ist, nicht einmal aus, um einer Mutter mit Kind die Armut zu ersparen.

Mit Nebenjob zum Titel

Oder sie schildert die verschlungenen Wege zu ihrem College-Abschluss. Mit 19 brach Herring ihr mit Vollstipendium finanziertes Studium an einer Universität in Washington ab, weil sie Jim Warren heiratete. In Houston nahm sie einen zweiten Anlauf an einer Uni, deren Studiengebühren (15 Dollar pro Semester) sie sich leisten konnte, und kellnerte nebenbei. Liz Warren wurde Lehrerin, später studierte sie Jus, unterrichtete Rechtswissenschaften.

Ihre Karriere führte über Universitäten in Texas und Pennsylvania bis nach Harvard, an die Spitze der Bildungspyramide. Warum sie das alles so ausführlich schildere? Weil ihr Leben zeige, dass es in Amerika schon einmal andere Zeiten gab. Der Kontrast zwischen damals und heute, sagt Warren, lasse sich auf Anhieb erklären, wenn man nur darüber nachdenke, für wen die Regierung arbeite. Für Großunternehmen oder die kleinen Leute? Sie, Elizabeth Warren, sei angetreten, um zu korrigieren, was seit den 1980er-Jahren schiefgelaufen sei.

"Seid ihr bereit für einen großen Strukturwandel?" Diese Frage darf auf keiner Kundgebung fehlen. So sperrig sie klingen mag, sie ist zu ihrem Markenzeichen geworden, so wie einst "Yes, we can" bei Barack Obama oder "Make America great again" bei Donald Trump. Die Frage passt zum Image einer Politikerin, von der es heißt, dass sie Sentimentales ebenso wenig mag wie diffuse Rhetorik. Die ehemalige Harvard-Professorin löst, wo immer sie auftritt, einen enormen Ansturm aus. Die Senatorin aus Massachusetts scheint einen Nerv zu treffen. Auch in Rock Hill, South Carolina.

Einen Monat vor ihr redete Joe Biden hier. Die Versammelten passten alle in die Basketballhalle. Im Falle Warrens erweist sich die Halle als viel zu klein, sodass die Veranstaltung kurzerhand ins Freie verlegt werden muss.

An Biden und Sanders vorbei

Gut möglich, dass Biden Federn lässt, weil die Ukraine-Affäre, die Donald Trump in ein Amtsenthebungsverfahren stürzt, auch ihm schaden kann. Und da ihr zweiter großer Rivale, der linke Senator Bernie Sanders, nach einem Herzinfarkt kürzertreten muss, findet sie sich auf einmal in der Favoritenrolle wieder. Während sich Sanders als demokratischer Sozialist definiert, versteht sich Warren als Anhängerin des Kapitalismus, betont aber zugleich die Notwendigkeit gründlicher Reformen. "Ich glaube an die Märkte", sagte sie einmal. "Woran ich nicht glaube, ist Diebstahl. Woran ich nicht glaube, sind Tricksereien."

Bis 1996 war sie Republikanerin. Damals wurde sie in eine Expertenkommission berufen, die im Auftrag des Weißen Hauses Vorschläge für eine Reform des Insolvenzrechts machen sollte. Als die Kommission ihre Arbeit beendete, war Warren nach Disputen zu den Demokraten gewechselt.

Vor der Finanzkrise 2008 warnte sie vor hochriskanten Subprime-Hypotheken, die Hauskäufer tatsächlich bald in den Ruin trieben und die Immobilienblase platzen ließen. Nach dem Crash holte Obama sie in die Regierung, um sie die Gründung einer neuen Verbraucherschutzbehörde vorbereiten zu lassen. Leiten durfte sie das Consumer Financial Protection Bureau jedoch nicht. Einer derart scharfen Kritikerin der Wall Street, hatten konservative Senatoren signalisiert, würden sie die nötige Bestätigung verweigern.

2012 wurde sie in den US-Senat gewählt und avancierte zur neuen Hoffnungsträgerin der Progressiven. 2016 verzichtete sie auf eine Bewerbung fürs Oval Office. An ihrer Stelle wurde Sanders zur Lichtgestalt der Linken. Nun erhebt sie, wenn man so will, Anspruch auf ihre frühere Rolle – mit der Losung vom "big structural change" als Erkennungszeichen.

Gegen die Wall Street

Eine Präsidentin Warren, erklärt sie in Rock Hill, würde die Drehtür schließen, durch die Wall-Street-Bankiers in die Politik wechseln oder Politiker zu den Wall-Street-Banken. Überhaupt würde sie alles tun, um den Einfluss des Geldes auf die Politik zurückzudrängen – denn der schade der Demokratie. Sie würde Monopole zerschlagen, Giganten wie Amazon, Google oder Facebook zurechtstutzen. Schließlich würde sie die reichsten Amerikaner mit einer Vermögenssteuer zur Kasse bitten, damit gebührenfreie Hochschulen, kostenlose Kindergärten und eine Rentenerhöhung um monatlich 200 Dollar (181 Euro) für jeden finanziert werden können. Big structural change!

Nach ihrem Plan sollen Haushalte, deren Vermögen 50 Millionen Dollar überschreitet, zwei Prozent Steuer zusätzlich zahlen. Ob das genügt, um die vielen Milliarden an Mehrausgaben zu decken? Ob am Ende die Abgaben nicht auch für Normalverdiener steigen müssen? Nicht nur ihre Widersacher, sondern auch skeptische Parteifreunde stellen solche Fragen. Überzeugende Antworten gibt sie an diesem Tag nicht, zunächst geht es ihr darum, gegen ein Zerrbild anzureden.

Gegen die Karikatur der neidischen, verbissenen Umverteilerin, die reichen Menschen ihren Reichtum nicht gönnt. "Noch einmal zum Mitschreiben", sagt Warren: Wer 50 Millionen besitze, für den ändere sich nichts. Erst ab dem ersten Dollar darüber werde es teurer. Es folgt ein breites Lächeln, dann die Pointe: "Ach, ich sehe schon, wie einige Leute jetzt sagen: Na ja, mit dieser Frau kann ich eigentlich leben." (Frank Herrmann aus Rock Hill, South Carolina, 15.10.2019)