Auf der beheizten Terrasse geht es am Tag nach der Eröffnung schon so zu wie ums Eck im Schwarzen Kameel: Die Stammgast-Garnitur aus in die Jahre gekommenen Beaus, Nobelanwälten und anderen Edelstrizzis der Wiener Halbwelt ist von drüben hergewandert und hat sich die Locken des ausdünnenden Haupthaars besonders hübsch zurückgegelt. Eine Brötchen-Vitrine mit eigenwilligen Kreationen (Nudelsalat auf Schwarzbrot?) gibt es auch, passt.

Hinter der Bar haben sich Basilikumtöpfe in die Flaschen-Regale geschummelt – nicht die einzige Anleihe, die Innenarchitekt Matteo Thun am (eh eigenen) Design der Vapiano-Kette genommen zu haben scheint. Wer noch einen Abglanz vom Millionengrab Aï erhaschen will, muss aufs Klo: Es hat den Umbau des Lokals zum Flagshiprestaurant von Campari überlebt.

Die Drinks im neuen Bar-Restaurant von Campari sind noch exquisiter als erwartet. Beim Essen wird noch nachgeschärft.
Foto: Gerhard Wasserbauer

Ansonsten wurde der Materialprotz des Aï konsequent entsorgt, stattdessen ist glatter, an Hotellobbys orientierter Stil eingezogen: ein prächtiger Rhombus-Parkettboden, viel Holz und Raufaser an der Wand, allerhand loungige Rundbänke und im Restaurant charmante Sessel, die das Schwarz-weiß-Muster historischer Campari-Werbungen zitieren.

Die Shakeratos, Seltz', Spritz' und anderen Negronis aus dem Campari-Repertoire legen gar köstliches Zeugnis von der Grandezza italienischer Aperitivo-Kultur ab, da kann man den Barkeepern in weißen Doppelreiher-Dinnerjackets nur gratulieren.

Die Armada der Kellner ist hingegen, wie im Kameel, im weißen Einreiher unterwegs – sie war schon am zweiten Geschäftstag bewundernswert gut disponiert. Man merkt die Kameel-Schule von Patron Peter Friese.

Zu essen gibt es ab dem Frühstück mehr oder weniger italianisierende Happen. Croque Monsieur etwa wird mit Spiegelei unter der gratinierten Käsehaube (und mit gar blassem Paradeissalat) serviert, laut Gastro-Kodex wäre das eher ein Croque Madame – und jedenfalls die französische Version im Gegensatz zur venezianisch in Olivenöl gebratenen.

An den Brötchen aus der Vitrine wird noch geschraubt, sie zeigen zwar schon Charakter und den Willen zur Eigenständigkeit (Sardellenaufstrich mit Oliven, Rohkostsalat ...), die kultige Geschmackssicherheit der Vorbilder aus dem Kameel aber lassen sie noch vermissen.

Un Mare di Zucchini

Von den Speisen im Restaurant darf man sich nicht zu viel erwarten. Friese betont auch, dass der Ort "vor allem als Bar" konzipiert sei. Fritto misto di mare wird sauber frittiert, besteht aber ausschließlich aus (sehr zarten) Calamari – bis auf ein paar Zucchini- und Paprikastreifen, die sich offenbar verirrt haben.

Im Ganzen gekochte Artischocken zum Zupfen sind jene winzigen Exemplare, die in Italien nur aufs Herz pariert zum Einsatz kommen, dementsprechend wenig lässt sich von den mageren Blättchen zupfen. Dafür ist die Limonenbutter, in der sie schwimmen, wirklich gut.

Risotto milanese ist an so einem Ort natürlich Pflicht.
Foto: Gerhard Wasserbauer

Tagliatelle mit Steinpilzen (Achtung, getrüffelt!) werden spektakulär in ausgehöhlten Pecorino-Laiben serviert, die Gemüse-Lasagne "Bar Campari" enttäuscht hingegen mit markantem Eiskastenaroma.

Risotto milanese ist an so einem Ort natürlich Pflicht, der Reis kommt auch wunderbar bissfest und cremig "all'onda" zu Tisch, die saftig gebratenen Riesengarnelen dazu (siehe Bild) lässt man sich gern gefallen.

Dass die Gelegenheit ausgelassen wurde, Wien eine ordentliche Costoletta alla Milanese zu servieren, verwundert hingegen. Vor allem, wenn es stattdessen Piccata alla Milanese gibt, jenes südgermanische Hybridgericht aus gebackenem Schnitzel und Tomatenspaghetti, das nur in unseren Breiten als italienische Idee vom Essen durchgeht. (Severin Corti, RONDO, 18.10.2019)

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