Jeff Tweedy (Dritter von links) und Wilco aus Chicago: Lieder über das Liegenbleiben, die Vergänglichkeit und die Liebe als letzten Fluchtpunkt.

Foto: Shervin Lainez

Mit 52 Jahren ist Jeff Tweedy ein Altersgenosse Kurt Cobains. Er teilt mit dem tragischen Helden der Generation X nicht nur den zart-verwahrlosten Look. Der besagt, dass man in der Früh in das erstbeste Gewand steigt, das in der Nähe des Betts liegt. Dort liegt es immer, solange man es noch nicht riechen kann. Dann rauft man sich die Haare, um an keinem Spiegel vorbei Richtung Dichterklause zu schlurfen, um sich dort an seinen großen amerikanischen Schuldgefühlen, den eigenen Versagensängsten und Minderwertigkeitskomplexen abzuarbeiten.

Jeff Tweedy mag zwar aussehen wie ein Waldarbeiter, der sich in den 1980er-Jahren ein Secondhand-Plattengeschäft gekauft hat, damit er und seine nerdigen Freunde einen Ort haben, um sich über finnischen Tango oder frühen Psychedelic-Rock der Sixties aus Jugoslawien auszutauschen. Seine Musik und Lieder aber künden von einer existenziellen Traurigkeit und Melancholie, die in der Rockmusik der letzten 20, 30 Jahre ihresgleichen sucht.

Freude schöner Götterfunken

Jeff Tweedy nennt das neue Album seiner Band Wilco im Geiste Ludwig van Beethovens und Friedrich Schillers ausgerechnet Ode to Joy. Das mag einer Künstlerpersönlichkeit geschuldet sein, die zwar das Leid der Welt regelmäßig auf ihre Schultern und deshalb alles sehr persönlich nimmt.

wilco

Allerdings geschieht das natürlich stets auch ironisch-gebrochen. So blöd naiv, romantisch und ichbezogen kann heute niemand mehr sein. Dazu kommt auch noch das sehr oft in solchen Fällen dem Alter geschuldete Überlebensprinzip der Hoffnung gegen jede Hoffnung. Siehe auch Ghosteen von Nick Cave.

Wie zuvor schon mit seiner ersten Band, den eher Country-lastigen Uncle Tupelo in den frühen 1990er-Jahren unter anderem mit dem Rezessionsalbum No Depression, betreibt Jeff Tweedy bei Wilco gern die Kunst des Understatements. Breitbeinig vorgetragene Rockriffs und der Drang zur großen oder überlebensgroßen Geste sind bei Wilco zwar auch jederzeit möglich, allerdings eher innerlich und verklausuliert.

Restaurants statt Drogen

Immerhin ist Rock längst tot – und wenn man Familienvater Tweedy heute etwas vorwerfen kann, dann höchstens, dass er und Wilco bei angezogenem Tempo in der Veröffentlichungspolitik ständig frisches Futter für das Genre des "Dad Rock" liefern. Es handelt sich bei diesem abfälligen Begriff um lange wie edler Wein gereifte Musik von Leuten jenseits der 50. Die achten auf Tourneen eher auf Restaurantempfehlungen als auf das lokale Drogenangebot. Und statt auf den kommerziellen Erfolg wird mehr auf Kontinuität und darauf Wert gelegt, hochwertige Qualität zu liefern. Dafür weiß man eine nibelungentreue Hörerschaft hinter sich und wird regelmäßig in Familienvater-Rockmagazinen wie dem Rolling Stone abgefeiert. Platte des Monats, Album des Jahres im Dauer-Abo.

Über elf Alben hat Jeff Tweedy mit Wilco sämtliche Anforderungen immer vollinhaltlich erfüllt. Von einem einst forschen Drang zum Pop (Summerteeth von 1999) oder "europäischen" Krautrock-Experimenten wie vielleicht zuletzt auf Yankee Hotel Foxtrot von 2002 ist über die Jahre nur wenig geblieben. Meist beschränkt man sich auf sanftmütigen Folkrock und milde Refrains mit dezenten Lärmeinschüben des vom Jazz kommenden Wunderwuzzis Nels Cline. Der spielt seine Stromgitarre aktuell auch mit einem batteriebetriebenen Milchaufschäumer.

wilco

Allein seit 2015 liegen drei folkrockige, beim ersten Hören etwas unterambitioniert wirkende Alben von Wilco vor, die Songsammlungen Star Wars,Schmilco und nun eben Ode to Joy sowie drei akustische Soloalben Tweedys. Aktuell kann man auch seine auf Deutsch im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienene, im Plauderton gehaltene Autobiografie Let's Go (So we Can Get Back) lesen. In der geht es viel um Familie, musikalisches Nerdtum und eine überwundene Tablettensucht.

Die elf fröhlich-traurigen Songs von Ode to Joy beinhalten Meditationen über ein Plastiksackerl, das sich in einem Baum verfängt. Von der irdischen Vergänglichkeit angesichts von Marterln für Unfalltote am Straßenrand wird softly, softly sprechgesungen. Höhepunkte des Albums sind die zweckoptimistischen Songs Love Is Everywhere (Beware) oder die Liegenbleibenhymne an den Anforderungsverweigerer in uns allen, One and a Half Stars: "I can't escape my domain." Dazu rappelt die beckenlose Perkussion, klimpert das Klavier und schrubben drei Gitarren. Aber die Platte wächst. Toll. (Christian Schachinger, 17.10.2019)