Kaïs Saïed gewann die tunesische Präsidentenwahl deutlich. Politische Parteien hält er stärker auf Distanz als diese Flagge.

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Bilder von jubelnden Menschenmassen sah man in Tunesien in den vergangenen Jahren höchstens nach wichtigen Fußballspielen, keineswegs aber bei politischen Großereignissen. Bis letzten Sonntag. Denn der Erdrutschsieg des Verfassungsrechtlers Kaïs Saïed in der Stichwahl um das Präsidentenamt trieb noch am Wahlabend tausende junge Menschen auf die Straßen von Tunis. Stundenlang und lautstark feierten sie dessen Einzug in den Präsidentenpalast von Karthago im Norden der Hauptstadt.

Ob er wirklich in den pompösen Palast übersiedeln wird, ist unklar. Denn der bescheiden auftretende Saïed hatte im Wahlkampf angekündigt, im Falle eines Wahlsieges zu Hause wohnen zu bleiben. Solche und ähnliche Ankündigungen waren es, die dem dröge daherkommenden parteilosen Juristen scharenweise Wähler in die Arme trieben.

Endlose Grabenkämpfe

Tunesiens überwiegend junge Bevölkerung hatte genug von ausufernder Korruption, leeren Wahlversprechen und nicht enden wollenden parteipolitischen Querelen. Als etabliert geltende Parteien hatten in der letzten Legislaturperiode ihr eigenes Grab geschaufelt, zeigten sie sich doch unfähig, sich der sozialen Schieflage und Perspektivlosigkeit der Jugend anzunehmen. Stattdessen verloren sie sich in endlosen Macht- und Grabenkämpfen.

Sowohl wirtschaftsliberal-säkulare Kräfte als auch die gemäßigten Islamisten der Ennahda oder Tunesiens traditionelle Linke haben politisch versagt oder es verpasst, sich als glaubwürdige und regierungsfähige Alternative zum für das Gros der Bevölkerung wenig attraktiven Status quo zu präsentieren.

Glaube an Veränderung

Angesichts dieser Ernüchterung und Frustration, aber auch der niedrigen Beteiligung an der Kommunalwahl 2018 wurde zuletzt immer wieder der Abgesang auf Tunesiens Übergangsprozess eingestimmt. Die guten Wahlergebnisse des auf schrillen Populismus setzenden Medienmoguls Nabil Karoui und seiner Partei bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sowie der Einzug von Abir Moussis Neuer Destur-Partei ins Parlament sind Anzeichen genau dieser Stimmung, fordern doch beide ein Ende des politischen Chaos und wollen zurück zu einem Präsidialsystem und einem starken Staat – ähnlich wie vor der Revolte von 2011.

Wie die jüngsten Wahlergebnisse aber zeigen, finden solche Forderungen doch keine so große Zustimmung wie im Vorfeld der Urnengänge befürchtet. Vielmehr zeigt der Wahlerfolg Saïeds, dass die Jugend weiterhin an Veränderungen glaubt. Mit 73 Prozent der Stimmen gewann er die Stichwahl erdrutschartig vor allem mit den Stimmen der Jungen.

Erzkonservativ, gegen Korrpution

Geschafft hat er das mit einer Kombination aus Unbestechlichkeit und Reformwillen. Saïed gilt als parteipolitisch unabhängig, ultrakonservativ und politisch radikal. Seinen Wahlkampf hat er selbst finanziert, politische Parteien hält er auf Distanz. Gleichzeitig vertritt er in gesellschaftlichen Fragen ultrakonservative Positionen, die ihm viel Kritik einbringen, aber im konservativen Hinterland Tunesiens ankommen. Politisch will er das Land umkrempeln und setzt auf eine Dezentralisierung der politischen Macht. Saïeds Wahlsieg war ein Plebiszit gegen die Korruption, Tunesiens Jugend macht er Hoffnung darauf, dass ein echter Wandel doch noch möglich ist.

Ob er diese Rolle als Hoffnungsträger erfüllen kann, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Denn Saïed braucht für seine Reformpläne Partner im neu gewählten, stark fragmentierten Parlament. Schließlich sind die Kompetenzen des Präsidenten in Tunesien begrenzt. Ob die Volksversammlung jedoch in der Lage sein wird, eine stabile Regierung zu bilden, ist offen. Saïed dürfte mit heftigem Gegenwind zu kämpfen haben, während das Kompetenzgerangel zwischen Parlament, Regierung und Präsident das Land unvermindert lähmen könnte. (Sofian Philip Naceur, 16.10.2019)