Die zuletzt weitgehend von Kurden autonom verwalteten Gebiete haben syrischen Regierungstruppen Zugang gewährt, um die türkische Offensive zu stoppen.

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Am Mittwochabend hat die syrische Armee in der Begleitung von russischen Streitkräften in der Kurdenstadt Kobanê an der türkischen Grenze Stellung bezogen. Nach Angaben der oppositionsnahen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte hatten die Streitkräfte am Nachmittag den Euphrat-Fluss am Weg in die strategisch wichtige Stadt überquert.

Kobanê liegt in der von den Türken angestrebten "Sicherheitszone". Das türkische Militär nimmt den Landkorridor in Nordsyrien nach dem Abzug von US-Truppen seit einer Woche unter Beschuss. Die zuletzt weitgehend von Kurden autonom verwalteten Gebiete haben daher Regierungstruppen Zugang gewährt, um Ankaras Offensive zu stoppen. Ein Gewinn für Machthaber Bashar al-Assad, sagen Experten – "ein schmerzvoller Kompromiss", sagen Vertreter der von der YPG-Kurdenmiliz angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF).

Der SDF-Chef Mazlum Kobanê sagte am Mittwoch, Russland sei der Garant für das Abkommen mit Damaskus. Demnach müssten syrische Regierungstruppen an die gesamte nordöstliche Grenze zur Türkei vorrücken – erst dann sei der Deal erfüllt. Ihren Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) hätten die SDF vollständig ausgesetzt.

IS meldet "Befreiung"

Der IS vermeldete am Donnerstag die "Befreiung" von mehreren Frauen aus kurdischer Haft in Syrien. Die Extremistengruppe erklärte über den Messenger-Dienst Telegram, ihre Kämpfer hätten ein Hauptquartier der kurdischen Sicherheitskräfte westlich von Raqqa gestürmt und von den Kurden "entführte muslimische Frauen befreit".

Um wen es sich dabei genau handelt, blieb offen. Seit Beginn der türkischen Offensive besteht international die Sorge, dass die tausenden inhaftierten IS-Anhänger in kurdischer Haft die Chance zur Flucht nutzen. In den vergangenen Tagen wurden bereits mehrere Ausbrüche und Fluchtversuche gemeldet. Knapp 800 Frauen und Kinder von IS-Kämpfern sollen aus einem Lager bei Ain Issa geflohen sein. Laut dem Außenamt in Wien befinden sich derzeit drei Österreicher in nordsyrischen Lagern – neben der Salzburgerin Maria G. und ihren beiden Kleinkindern und der Wienerin Evelyn P. mit ihrem Sohn auch ein Österreicher mit türkischen Wurzeln.

Darüber, dass Österreicher unter den Entflohenen sind, liegen dem Außenministerium "keine Informationen" vor, wie ein Sprecher dem STANDARD mitteilt. Was die Rückholung von Maria G., Evelyn P. sowie den drei Kleinkindern betrifft, gibt es noch keine neuen Entwicklungen. Wann man das letzte Mal direkten Kontakt hatte, ließ das Ministerium unbeantwortet.

Wie bereits bisher sei man aber in engem Kontakt mit in der Region präsenten internationalen Organisationen, hieß es. Um die Lage in der Region und den Lagern, in denen sich die Anhängerinnen befinden, einzuschätzen, stimme man sich mit europäischen Partnern und mit den Ländern der Globalen Anti-IS-Koalition ab.

PKK "keine Engel"

In den USA verurteilte das Repräsentantenhaus am Mittwoch den von Präsident Donald Trump angeordneten Truppenabzug aus Nordsyrien mit großer Mehrheit – darunter viele Stimmen von Republikanern. Seinen auch in der eigenen Partei heftig umstrittenen Syrien-Kurs verteidigte Trump daraufhin als "strategisch brillant". Er bestreitet, dass er der türkischen Offensive grünes Licht gegeben hat. Um das zu unterstreichen, veröffentlichte das Weiße Haus einen Brief Trumps an den türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan vom 9. Oktober, in dem er seinen Amtskollegen vor einer Militärintervention mit den Worten "Seien Sie kein harter Kerl! Seien Sie kein Narr!" warnte. Der Brief endet mit den Worten: "Ich werde Sie später anrufen."

Den Vorwurf, er habe die mit den Vereinigten Staaten verbündeten kurdischen Kämpfer im Stich gelassen, hatte Trump am Mittwoch bei einer Pressekonferenz erneut zurückgewiesen. Vor Reportern im Weißen Haus in Washington versicherte Trump, auch nach dem US-Abzug aus Syrien seien die Kurden dort "sehr gut geschützt". "Nebenbei bemerkt, sie sind keine Engel."

Die YPG hatte im Winter 2015 die Grenzstadt nach schweren Kämpfen von IS-Besatzern befreit. Für Erdoğan ist die YPG ein Ableger der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK, die er als "Terroristen" bezeichnet. Trump schlug diesbezüglich am Mittwoch ähnliche Töne an: Die PKK sei eine noch größere Terrorbedrohung als der IS.

Erdoğan will von Einlenken in Nordsyrien nichts wissen

Verhandlungen mit den YPG-Einheiten schloss Erdoğan am Mittwoch erneut kategorisch aus: "In der Geschichte der Türkischen Republik hat sich der Staat noch nie mit einer Terrororganisation an einen Tisch gesetzt." Auch lehnt der türkische Präsident jedes Einlenken in Nordsyrien, etwa eine Waffenruhe, ab.

Die USA wollen sich für eine Waffenruhe zwischen der Türkei und den YPG einsetzen. Ein für Donnerstag geplantes Treffen mit US-Vizepräsident Mike Pence in Ankara wollte Erdoğan zuerst nicht wahrnehmen. Nachdem er erst erklärt hatte, nur mit Trump persönlich über die Lage in Syrien sprechen zu wollen, ließ sich der türkische Machthaber offenbar doch erweichen. Erdoğan plane, die US-Delegation zu treffen, meldete sein Kommunikationsdirektor auf Twitter.

USA verhängen Infosperre gegen Türkei

Trump hatte am Montag Sanktionen gegen die Türkei erlassen. Zuvor hatte Washington das türkische Militär wegen der Invasion weitgehend aus der internationalen Koalition gegen die IS-Terrormiliz ausgeschlossen. Die Türkei solle im Hauptquartier auf dem Luftwaffenstützpunkt im katarischen Al-Udeid keinerlei Aufklärungs- oder Operationsdaten der Allianz erhalten. Nun bereitet das türkische Außenministerium nach eigenen Angaben Vergeltungsmaßnahmen gegen die USA vor.

Putin lädt Erdoğan nach Russland ein

Der russische Präsident Wladimir Putin hat derweil Erdoğan zu Gesprächen nach Russland eingeladen. Das eintägige Treffen werde am kommenden Dienstag in der Schwarzmeerstadt Sotschi stattfinden, meldeten am Mittwochabend die russische Agentur Tass und die türkische Nachrichtenagentur Anadolu übereinstimmend. Beide wollten Kreml-Angaben zufolge in einem persönlichen Gespräch klären, wie eine direkte Konfrontation zwischen türkischen und syrischen Truppen im Norden des Kriegslandes verhindert werden könnten.

Mehr als 160.000 Zivilisten sind wegen der türkischen Offensive auf der Flucht – laut der oppositionsnahen, in London ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sind sogar bereits bis zu 300.000 Menschen geflüchtet. Laut kurdischen Angaben sind seit dem Start der Militärintervention auch mehr als 200 Zivilisten, darunter 18 Kinder, getötet worden. (fmo, van, APA, 16.10.2019)