Bei aller Erleichterung über die fast in letzter Minute erzielte Einigung in Brüssel sollten die Beteiligten eines nicht vergessen: Boris Johnson bleibt ein Mann, auf dessen Wort kein Verlass ist. Dem britischen Premierminister ist auch weiterhin zuzutrauen, dass er sein Land und die anliegenden Volkswirtschaften in den Chaos-Brexit stürzen würde, wenn ihm persönlich dieser sogenannte No Deal nutzt. All jene auf beiden Seiten des Ärmelkanals, die dieses Szenario zu Recht verhindern wollen, müssen auf der Hut bleiben.

Der 55-Jährige hat im Juli sein Amt als Chef einer konservativen Minderheitsregierung angetreten. Binnen sechs Wochen hatte er sich so verrannt, dass seine Fraktion im Unterhaus weiter drastisch zusammenschrumpfte. Verdiente langjährige Minister, altgediente Liberalkonservative verließen die Partei.

Auf schändliche Weise versuchte Johnson, das Parlament von der Brexit-Debatte auszuschließen. Erst der Supreme Court, das britische Höchstgericht, schob diesem Vorgehen mit einem einstimmigen Urteil den Riegel vor. Jeder ehrenhafte Politiker hätte nach diesem Rückschlag wohl seinen Hut genommen.

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Boris Johnson bleibt ein Mann, auf dessen Wort kein Verlass ist.
Foto: AP Photo/Francisco Seco

Johnson jedoch blieb im Amt und änderte bloß seinen Kurs. Bis heute dringen aus der Downing Street in regelmäßigem Abstand giftige Rhetorikwolken à la Donald Trump. Erst vergangene Woche schürte Johnsons Chefberater Dominic Cummings mit ekelhafter Verleumdung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel die ohnehin vorhandene Deutschenfeindlichkeit im Land. Der Premierminister hingegen machte in der Praxis pragmatische Schritte auf die europäischen Partner zu. Wenn nicht alles täuscht, wird seine Begegnung mit dem irischen Kollegen Leo Varadkar vorige Woche als Schlüsselszene der Brexit-Einigung in die Geschichte eingehen – wenn die Vereinbarung von Brüssel denn tatsächlich Bestand haben sollte.

Brexit-Vabanquespiel

Dies bleibt fraglich. Im Unterhaus hat sich Johnson keine Freunde gemacht. Sein Regierungshandeln entspricht der britischen Tradition: Gestützt auf die eigene Fraktionsmehrheit wird auf die Opposition keine Rücksicht genommen. Aber die Konservativen haben keine Mehrheit, das Unterhaus ist derzeit so zersplittert wie seit langen Jahrzehnten nicht mehr. Geduld, der Wille zum Zuhören, Kooperationsbereitschaft – all diese Attribute eines auf Konsens bedachten Regierungschefs fehlen dem fröhlichen Blondschopf.

Dass seinem Brexit-Vabanquespiel dennoch Erfolg beschieden sein könnte, hat mit der Schwäche der Opposition zu tun. Mitten in der schwersten außen- und innenpolitischen Krise der Nachkriegszeit verfolgen Sozialdemokraten, Liberaldemokraten, Grüne und Nationalisten alle nur ihre engen parteipolitischen Interessen. Die Labour-Partei leistet sich zudem als Vorsitzenden den zutiefst unpopulären Jeremy Corbyn, einen zur Führung ungeeigneten, an Machtfragen uninteressierten, von Europa gelangweilten Gesinnungsethiker. Und das zynische Spiel der schottischen Nationalisten zielt einzig und allein auf die Unabhängigkeit ab; die beiden Seiten in Nordirland werden von mediokren, schmerzhaften Kompromissen gegenüber unwilligen Figuren geleitet.

Wer solche Gegner hat, verfügt über Fortune. Aber Vorsicht, Europa! Die Briten bleiben für Überraschungen gut. Und Boris Johnson sollte man keinen Zentimeter über den Weg trauen.(Sebastian Borger, 17.10.2019)