Noch ein letzter kleiner Anstieg. Gleich ist es so weit. Hinter dieser Kuppe muss mein lange ersehntes Ziel liegen. Fünfzehn Tage bin ich nun mit dem Fahrrad unterwegs, und der Kilometerzähler ist längst über die Zweitausendermarke gesprungen. Während dieser beiden Wochen habe ich alles gegeben: bei glühender Hitze, bei strömendem Regen, Meter für Meter, Kilometer für Kilometer, jeden Tag den sprichwörtlichen Staub der Landstraße auf Schuhen und Beinen.
Und dann vor zwei Tagen, kurz nach Rennes, der Hauptstadt der Bretagne, hörte ich plötzlich den Schrei dieser einen, da noch einsamen Möwe – ein erstes untrügliches Zeichen, dass die Küste nicht mehr weit entfernt sein konnte. Gestern war es bereits eine Handvoll Möwen, und jetzt, während die goldene Abendsonne zwischen den dunklen Wolken hervorbricht, kreist ein ganzer Schwarm über mir im Wind.
Nach der heutigen 150-Kilometer-Etappe müssten die Oberschenkel eigentlich ziemlich brennen. An anderen Tagen wäre ich nun müde, durstig und hungrig, denn ich hatte während der letzten beiden Stunden mit scharfem Gegenwind zu kämpfen. Aber jetzt, so knapp vor dem Ziel, spüre ich nichts mehr davon. Alles ist einem großen Glück und einer tiefen Zufriedenheit gewichen.
Noch dreißig Meter. Zwanzig Meter. Zehn. Dann sehe ich mein Ziel. Unterhalb der Anhöhe bricht das Land in steilen Felsklippen hin ab zum aufgewühlten Meer. Vor mir liegt der weite, im Sonnenlicht glitzernde, offene Atlantik. Nach fünfzehn Tagen habe ich den Pointe de Corsen, die äußerste Westspitze Frankreichs, erreicht.
Das Rad – ein Wunderwerk!
Die Erfindung des Fahrrades hat den Menschen ermächtigt und befreit. Plötzlich wuchsen seine von der Evolution begrenzten körperlichen Fähigkeiten um ein Vielfaches. Durch die geniale Kombination zweier der größten historischen Errungenschaften – des Rades und des Hebels – wurde eine Maschine erschaffen, die den engen Bewegungshorizont der bislang zu Fuß Gehenden mit einem Schlag ins beinahe Unermessliche ausdehnte.
Und all dies war in vollkommener Unabhängigkeit möglich: Für den Betrieb eines Fahrrades war weder die Kooperationsbereitschaft anderer Menschen oder die Ausbeutung eines Tieres erforderlich – noch waren Treibstoffe oder externe Energiequellen nötig.
Nicht überraschend, dass die ersten Benutzer von Draisinen, der Urform des Fahrrades, sofort das Rennen mit den damals auf Fernstraßen gebräuchlichen Postkutschen aufnahmen. Und kein Wunder, dass die erste Erdumrundung mit einem Hochrad bereits im Jahre 1886 gelang.
Bis an die Grenzen Europas
Diese große Weite und diese wunderbare Freiheit wollte ich im heurigen Sommer ausgiebig "erfahren". Ein gutes Tourenrad, zwei Satteltaschen mit leichtem Gepäck und vier Wochen Zeit: genug, um mit eigener Körperkraft mehr als 3.300 Kilometer quer durch Europa zu reisen.
Zuerst von Wien die Donau hin auf nach Passau. Dann über einige mittelalterliche Kleinstädte Bayerns und Baden-Württembergs bis Strasbourg. An den historischen Schifffahrtskanälen, die den Rhein mit der Marne verbinden, entlang. Über die Weinhügel der Champagne nach Paris. Von dort im Landesinneren durch die von der Sommerhitze ausgetrockneten Landschaften der Pays de la Loire bis in die Bretagne. Anschließend an der Atlantikküste hinauf in die Normandie und zuletzt über Flandern bis Brüssel.
Solche Reisen lassen sich im Detail nicht planen. Es ist ein Vorrücken von einem Tag zum anderen, ein fast kreatives Zeichnen einer langen Linie auf die Landkarte: Welche Straßen eignen sich bezüglich des Verkehrs und ihrer Höhenprofile am besten? In welcher sehenswerten Stadt lohnt es sich, die kommende Nacht zu verbringen? In welchem Restaurant könnte man abends in hungrigem Zustand das Servierpersonal mit kalorienreichen Bestellungen in Staunen versetzen? Vieles ist vom Wetter wie etwa den Windbedingungen abhängig und auch davon, wie gut der doch relativ beanspruchte Körper über die Zeit durchhält.
Tour de France
Das Fahrrad bietet die optimale Geschwindigkeit. Mit täglich 120 bis 170 Kilometern kommt man gut voran – trotzdem sieht man so viele Details und sind die langsamen Veränderungen der Landschaft in allen Nuancen sinnlich erlebbar. Wie wohltuend unterscheidet sich dieser Reisestil von anderen Verkehrsmitteln wie dem Flugzeug, in denen der selbstbestimmte Mensch zu würdelosem Transportgut degradiert wurde. Die notwendige Ausdauer vorausgesetzt, ist so gut wie jedes Ziel erreichbar – trotzdem gebietet das Fahrrad wieder jenen Respekt vor der Distanz, der im modernen Tourismus vollkommen verlorengegangen ist und dessen Wiedererlangung uns allen jedoch angesichts des Klimawandels nicht schaden würde.
Ich habe Frankreich als herrliches Land für Radreisen kennengelernt. Aus einem einfachen Grund: Die Franzosen mögen Radfahrer, weil Radfahrer im Land der Tour de France keine Belästigung sind, sondern Helden. Das beginnt bei den überaus entspannten französischen Autolenkern: Sie grüßen anerkennend, wenn sie einen Biker wie mich sehen, sie zuckeln minutenlang geduldig und ohne zu hupen hinter einem her, wenn die Straße eng ist. Und es ist die Hochachtung der ganz einfachen Leute, die man unterwegs trifft: alte Männer in einem Café, die sich von den Tischen erheben, um gemeinsam das Fahrrad des fremden Österreichers zu bestaunen, oder die Kellner der Bars und Brasserien, die einen zum Auffüllen der Trinkflaschen nicht aufs Klo lassen, sondern darauf beste hen, selbst das bessere, eisgekühlte Tafelwasser aus dem Zapfhahn einzufüllen.
La fin du voyage
Das Ende meiner Radtour bedeutet auch das Ende meiner Freiheit: Kurzfristig mit der Bahn von Brüssel nach Wien zu wollen stellt sich als komplizierter heraus als vermutet. Bis über die belgisch-deutsche Grenze schaffe ich es noch, danach sind in den Schnellzügen alle Fahrradabstellplätze ausgebucht. Das bedeutet: Ich muss ich mich mit Regionalbahnen durchschlagen.
Gemeinsam mit Herrn Wirtz, einem grauhaarigen und schnauzbärtigen Bahnbeamten der Marke "Ich habe schon alles erlebt, mich erschüttert gar nichts mehr!" spiele ich im Kundenzentrum des Hauptbahnhofs Aachen fast eine Dreiviertelstunde lang alle Varianten durch, aber mehr gibt das europäische Bahnnetz offenbar nicht her. Am Ende ist sogar Herr Wirtz etwas erschöpft, als er mir einen Verbindungsvorschlag mit nicht weniger als achtmaligem (!) Umsteigen ausdruckt.
Aber ich habe beschlossen, dass mich das gar nicht nervt und dass das sogar ein durchaus stimmiger Abschluss meiner Reise ist: Nach vier Wochen im Sattel ist man dermaßen entschleunigt, dass man ganz gelassen aus dem regenbeschlagenen Zugfenster blickt und sich sogar am Anblick bundesdeutscher Provinzbahnhöfe mit schönen Namen wie Übach-Palenberg oder Geilenkirchen erfreuen kann. (Volker Plass, 20.10.2019)