Es ist ein Ritual geworden: Fast jeden Morgen stehe ich auf der Terrasse, nehme ein paar tiefe Atemzüge und genieße die morgendliche Stille. Es ist der weitaus ruhigste Teil meines geschäftigen Arbeitsalltags in Wien. Dieses Haus mit seiner rund 90 Jahre alten Geschichte war meine kleine Heimat, ein Rückzugsort und mein Ruhepol in den vergangenen vier Jahren meiner Dienstzeit als Botschafterin des Staates Israel in Österreich.

Die Botschafterin Talya Lador-Fresher auf ihrer Wiener Terrasse: "Das Loos-Haus mit seiner 90 Jahre alten Geschichte war mein Ruhepol!"
Foto: Regine Hendrich

In einem solchen Juwel inmitten Wiens zu leben war für mich eine Ehre und ein Genuss. Das Haus wurde 1928 vom berühmten österreichischen Architekten Adolf Loos entworfen. Für mich ist es sein Meisterstück. Obwohl Loos zu diesem Zeitpunkt bereits am Ende seiner Karriere angelangt war, scheint sich all seine Kreativität in diesem Gebäude zu kristallisieren: Sowohl modernes Design als auch Gedanken über Nachhaltigkeit wurden hier bestens verwirklicht. Doch nicht nur die Architektur ist bemerkenswert. Die Geschichte des Hauses selbst ist ein Spiegelbild der Beziehungen zwischen Israel und Österreich.

Die jüdische Familie, die das Haus von Loos entwerfen und errichten ließ und die dort in Folge gewohnt hatte, hatte Glück gehabt. Eine Woche nach dem Anschluss 1938 war es ihnen gelungen, nach Prag und dann weiter in das heutige Israel zu fliehen. Während des Zweiten Weltkriegs hat hier die Gattin eines hochrangigen Nazi-Offiziers gewohnt. Um nach dem Krieg sein Haus wiederzubekommen, wurde Herrn Moller, dessen Besitzer, von der Stadt Wien gesagt, er müsse die Steuern und Abgaben für jene zehn Jahre nachzahlen, die seine Familie nicht in dem Haus gewohnt hat.

Eine derartige Forderung ist für uns aus heutiger Sicht schwer zu verstehen und war auch damals schon schwer zu akzeptieren. Unabhängig von der Frage, ob die Familie die Zahlung nicht leisten wollte oder konnte – das Haus wurde dann unserem ersten Premierminister David Ben Gurion angeboten. Der junge jüdische Staat hat die Schulden bezahlt und das Haus übernommen. Seit 1949 dient es als Residenz für den höchstrangigen israelischen Diplomaten in Österreich, und für mich war es eine große Freude, dass ich hier, nach 20 Vorgängern als erste Frau in dieser Position, wohnen durfte. Nun packe ich bald nicht nur meine Koffer, sondern ordne auch meine Gedanken über die Zeit in Wien und ziehe Bilanz.

Ich habe eine Liste erstellt

Eine vierjährige Dienstzeit zusammenfassen zu wollen ist eine unglaublich schwierige Aufgabe. Die Statistik spricht immerhin eine klare, eindeutige Sprache: Während meiner Zeit in Wien sind sowohl der Handel als auch der Tourismus zwischen Österreich und Israel um rund 40 Prozent gestiegen. Sechs Abkommen wurden unterzeichnet, und viele hochrangige österreichische Besucher haben das Heilige Land bereist – in offizieller Funktion mit eigener Pressedelegation und manchmal auch von der Öffentlichkeit unbeachtet als Privatpersonen. Doch wenn Freunde und Bekannte mich fragen, was ich in Österreich erlebt oder erreicht habe, so wollen sie nicht auf Zahlen, Daten und Fakten hinaus. Sie möchten erfahren, was mir während meiner Zeit in Österreich ans Herz gewachsen ist, was mich erstaunt hat, was ich über mich selbst gelernt habe und was mir vielleicht fehlen wird.

"Das Schweigen und die nur vage Kenntnis über die Schrecken des Zweiten Weltkriegs haben Israelis und Österreicher der zweiten und gar der dritten Generation gemeinsam."
Foto: Regine Hendrich

Ich habe bereits eine Liste erstellt. Darauf stehen natürlich die Botschaft und meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und das positive Gefühl, dass ich jeden Tag einen weiteren kleinen Schritt unternehmen konnte, um die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern voranzubringen. Vom ersten Tag an wurde ich überall freundlich empfangen und hatte das Gefühl, dass mir alle Türen offenstehen. Ich werde natürlich die verschiedenen Kaffeehäuser in Wien vermissen, meine schöne Residenz und das große Angebot an Kulturveranstaltungen, die ich regelmäßig besuchen durfte. Doch die schwierigste Frage ist: Was habe ich persönlich aus den vergangenen Jahren in Österreich mitgenommen?

Seit meinem ersten Tag hier wurde ich von mehreren Männern begleitet – von manchen nur in Gedanken, von anderen tatsächlich aus Fleisch und Blut. Der erste ist Theodor Herzl, Gründervater des Zionismus und Visionär des Staates Israel, der die meiste Zeit seines Lebens hier in Wien verbracht hat. Natürlich ist sein Name in Israel jedem bekannt. Ich habe seine Biografie gelesen, bevor ich meinen Dienst in Österreich angetreten bin. Aber ich wusste nicht, wie stark die Ideen, die in unseren Staat eingeflossen sind, von der Geisteswelt des Wien um die Jahrhundertwende geprägt wurden. Herzls bürgerliche Bildung hatte großen Einfluss ausgeübt, und nicht nur er, sondern die gesamte zionistische Bewegung hat viel im Umfeld von Wien agiert.

Grundstein für heute

Nur um ein Beispiel zu nennen: 1913, neun Jahre nach Herzls Tod, wurde im Rahmen des Zionistischen Kongresses, der im Wiener Musikverein abgehalten wurde, beschlossen, die Hebräische Universität in Jerusalem zu gründen. Es ist heute schwer, sich vorzustellen, wie vorausschauend diese Entscheidung gewesen ist. Jerusalem versank in Armut, und viele Menschen standen knapp vor dem Hungertod. Dennoch verstand man, dass es nur durch Bildung möglich sein würde, langfristig das Land und seinen Menschen nicht nur eine bessere, sondern überhaupt erst eine Zukunft zu ermöglichen. Die Entscheidung, so früh eine Universität zu gründen, kann als der Grundstein für die heutige Start-up-Nation Israel angesehen werden.

Der zweite Mann, der mich stets begleitete, ist mein Lieblingsautor Stefan Zweig und sein Buch Die Welt von gestern. Auch wenn Zweig kein Zionist war – als Jude sah er sich durch den erstarkenden Antisemitismus und eine Hausdurchsuchung gezwungen, Salzburg bereits kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland im Jahr 1933 zu verlassen. Als Frau, die über ein Gespür für Geschichte und historische Orte verfügt, hatte ich auch das Gefühl, dass mich sein Buch nicht nur in Salzburg, sondern auch in seiner Geburtsstadt Wien begleitet. Diese verflossene Welt lebt in den Straßen, den Gebäuden und Plätzen, die ihr Aussehen nur unwesentlich verändert haben, weiter.

"Ich werde natürlich die verschiedenen Kaffeehäuser in Wien vermissen, meine schöne Residenz und das große Angebot an Kulturveranstaltungen, die ich regelmäßig besuchen durfte."
Foto: Regine Hendrich

Jüdisches Leben in Wien hat im Laufe der Geschichte mehrere Phasen erlebt, von denen der Holocaust die größte Zäsur darstellt. In all den vier Jahren meiner Dienstzeit in Österreich war ich bestrebt, nicht immer diesen wunden Punkt anzusprechen – doch es ist bei der komplexen Geschichte, die unsere beiden Länder verbindet, nicht zu vermeiden. Der Holocaust ist noch immer sehr präsent, und die Wunden, die er gerissen hat, sind noch offen: bei uns in Israel und auch hier in Österreich, selbst wenn seither bereits mehr als sieben Jahrzehnte an Zeit vergangen sind.

Ich kam nach Wien mit bestimmten Grundannahmen, die, wie ich glaube, jeder Israeli mit sich herumträgt. Österreich kannte ich aus Geschichtsbüchern, Medien und Erzählungen von Freunden und Bekannten. Doch schon bald musste ich feststellen, dass einiges nicht der Wirklichkeit entspricht. Zum Beispiel hatte ich keine Vorstellung davon, wie gespalten und zerbrechlich die österreichische Gesellschaft und Politik bereits während der Zwischenkriegszeit – und mehr noch unmittelbar vor dem Anschluss an Hitler-Deutschland – gewesen ist.

Dunkle Epoche

Ein anderes Beispiel ist, dass wir Israelis glauben, dass jede Person, die gegen den Nationalsozialismus war, automatisch projüdisch gewesen wäre. Dass dem nicht so war, war eine überraschende und auch schockierende Einsicht. Ja, Menschen können sich wirklich engagiert gegen die Nationalsozialisten gewehrt haben und doch glühende Antisemiten geblieben sein.

Dies bringt mich zum dritten Begleiter meiner Dienstzeit: meinem bereits verstorbenen Vater Shlomo. Er wurde 1922 in Leipzig geboren. Mein Vater war zuerst in einem Ghetto interniert, schaffte es, von dort zu fliehen, und verbrachte die restlichen Kriegsjahre in einem Versteck. Im Jahr 1975 kehrte er als israelischer Diplomat nach Deutschland, in seine alte Heimat, zurück. Zu dieser Zeit war ich ein Teenager, und wir haben ein paar Jahre in Bonn gelebt. Ich wollte damals die deutsche Sprache nicht lernen. Es war schließlich die Sprache der Täter, und wir waren die Opfer. Dennoch hatten das deutsche Fernsehen und die Gespräche, die ich auf der Straße und in den Geschäften hörte, einen gewissen Einfluss ausgeübt und sich in meinem Gedächtnis verankert.

Heute ist Deutsch eine Sprache, in der ich ohne weiteres kommunizieren kann. Dennoch schwingt im Unterbewusstsein immer etwas Dunkles mit, weil Deutsch für viele Israelis nicht nur für Goethe und Schiller steht, sondern immer noch für Nationalsozialisten in Uniform. Selbst manche Redewendungen und Begriffe, die heute unverfänglich sind, wie zum Beispiel "Achtung, Stufe!", werfen uns emotional zurück in eine dunkle Epoche. In den vergangenen Jahren habe ich mich viel mit der deutschen Sprache auseinandergesetzt, regelmäßig Unterricht genommen, täglich mit meinem Team und den Menschen gesprochen, die ich getroffen habe. Ich wollte Deutsch korrekt beherrschen, es war schließlich die Muttersprache meiner beiden Eltern. Aber es war als Jugendliche eine Hassliebe – und ist es immer noch.

Freundliche Begleiter

So viel zu meinen Begleitern in meinen Gedanken und meinem Herzen. Auch in der Wirklichkeit war ich nie alleine. Die Beamten der Sondereinheit Cobra haben mich in all den Jahren auf Schritt und Tritt begleitet. Sie sollten meine Schatten sein, aber durch ihre Freundlichkeit und Professionalität haben sie meinen Alltag erhellt. Während meiner ersten Zeit in Wien habe ich oft an meinen Vater und meine Großmutter denken müssen und mich gefragt, wie sie reagieren würden, wenn sie wüssten, dass sich heute das Einsatzkommando – ebenfalls eines jener Worte, bei dem wir Israelis sonst zusammenzucken – um meine Sicherheit kümmert.

In Israel haben die Überlebenden des Holocaust lange nicht über ihre Erlebnisse gesprochen, die Vergangenheit war für uns Kinder nicht greifbar, unverständlich. Zu mir hat mein Vater über sein Leben nur in kurzen Sätzen gesprochen, aus denen ich mir die Tragweite des Gesagten nicht erschließen konnte. Er tat es, um mir eine normale Kindheit zu ermöglichen – und er war nicht der Einzige, für den Schweigen als die beste Möglichkeit erschien, um sich selbst und seiner Familie ein besseres Leben in der Zukunft zu sichern.

Dieser Umgang mit der Geschichte hat sich erst mit der dritten Generation verändert. Während der Schulzeit wurde den Schülerinnen und Schülern die Aufgabe gestellt, den eigenen Wurzeln nachzuspüren und unter anderem die Großeltern über ihr Leben zu befragen. Dadurch wurde ein Raum geöffnet, in welchem über die eigene Familiengeschichte gesprochen und diese gemeinsam aufgearbeitet werden konnte.

Im Laufe meiner Dienstzeit in Österreich wurde mir etwas bewusst: Dieses Schweigen und die nur vage Kenntnis über die Schrecken des Zweiten Weltkriegs haben Israelis und Österreicher der zweiten und sogar der dritten Generation gemeinsam. Auch die Täter, die Mitläufer, die Indifferenten, die Opportunisten und die wenigen, die Widerstand geleistet haben, haben mit ihren Kindern nicht über die Vergangenheit gesprochen. In Unterhaltungen mit Menschen, die ich schon besser kennengelernt hatte, habe ich versucht, herauszufinden, was deren Eltern oder Großeltern während des Krieges gemacht haben. Und ich glaube den vielen, die zu mir gesagt haben, dass sie wirklich keine Ahnung davon haben.

Verringerte Distanz

Der Holocaust als Verbrechen ist wissenschaftlich detailliert aufgearbeitet. Es ist möglich, die Lebensgeschichten der Opfer nachzuvollziehen, auch wenn die letzten Überlebenden bald von uns gegangen sein werden. Ich denke, wenn die Tätergeneration verschwunden sein wird und ihr Wissen mit ins Grab nimmt, ohne es weiterzugeben, werden ihre Nachfahren keine Möglichkeit erhalten, die eigene Familiengeschichte mit ihren dunklen Seiten aufzuarbeiten. Dieses Wissen wird schmerzlich fehlen.

Während wir in den vergangenen Jahren daran gearbeitet haben, jenen Graben in unserer gemeinsamen Geschichte zu überbrücken, der durch den Holocaust aufgerissen wurde, so hat sich die Distanz auch im täglichen Leben verringert. Israel ist nur drei Flugstunden von Österreich entfernt. Ich freue mich sehr, wenn junge Österreicherinnen und Österreicher in Jerusalem und Tel Aviv gewesen sind und mir erzählen, dass sie die Atmosphäre, die historischen Orte, das Nachtleben, die Strände und vieles mehr, was Israel heute auszeichnet, genossen haben. Ich besuche gerne die zahlenmäßig größer werdenden israelischen Restaurants in Wien und freue mich, dass sie immer gut besucht sind.

Auch auf politischer Ebene hat sich in den vergangenen Jahren die Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern verbessert, und ich glaube, dass viel mehr Menschen – nicht nur in Medien und Politik, sondern allgemein – mehr Einsicht in die Realität und Komplexität im Nahen Osten und Verständnis für Israels schwierige Situation erhalten haben. Wenn es Zusammenarbeit im Film gibt und gemeinsame Produktionen nach Österreich kommen, die den Alltag in Israel zeigen, dann glaube ich, dass ein fruchtbarer Boden bereitet wurde, um in Zukunft kreatives Schaffen und einen intensiveren Austausch zwischen Israel und Österreich noch mehr erblühen zu lassen.

Ich verlasse Österreich mit schwerem Herzen und kehre nach Jerusalem zurück. Es waren wunderbare Jahre, in denen ich viele Höhen und Tiefen erlebt habe – zum Glück waren diese nur geografischer Natur. Vom tiefsten Punkt Österreichs im Burgenland bis zum höchsten Gipfel des Großglockners. Jetzt weiß ich es aus eigener Erfahrung: Österreich ist ein schönes Land. Ich werde weiter alles unternehmen, um die guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern bestmöglich zu unterstützen. In der Zwischenzeit wünsche ich: Alles Gute, Shalom und servus! (19.10.2019)