Sabine Seiberl ist klinische Psychologin, Psychotherapeutin und stellvertretende Leiterin des Autismuszentrum Sonnenschein in St. Pölten.

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Ihr unbeirrbares Sonderinteresse für Umweltschutz hat Greta Thunberg zur Ikone für Klimaschutz gemacht, hier im Bild ein Rock-Festival in Rio de Janeiro.

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STANDARD: Sie arbeiten seit zehn Jahren mit autistischen Kindern und Jugendlichen. Wie ist Ihr Blick auf Greta Thunberg?

Seiberl: Es ist gut, dass sie ihre Erkrankung öffentlich gemacht hat. Es ist nicht nur für sie selbst gut, sondern auch für alle anderen Menschen, die mit einer Autismus-Spektrum-Störung zurechtkommen müssen. Es macht die Gesellschaft darauf aufmerksam, dass es Menschen gibt, die einen anderen Blick auf die Welt haben.

STANDARD: Inwiefern anders?

Seiberl: Sie verhalten sich nicht in der Norm, und alles, was nicht in die Norm passt, wird als Störung bezeichnet. Kinder mit Autismus entwickeln sich anders als Kinder ohne Autismus. Das fällt den Eltern auf, vor allem deshalb, weil die soziale Entwicklung beeinträchtigt ist.

STANDARD: Können Sie beschreiben, welche Symptome das sein können?

Seiberl: Es ist ein wirklich sehr breites Spektrum. Es gibt autistische Kinder, die gar nicht sprechen können, deren Intelligenz stark beeinträchtigt ist und die möglicherweise niemals selbstständig werden leben können. Oft ist aber auch eine starke Fixierung auf gewisse Dinge mit einer Autismus-Spektrum-Störung verbunden, die sich als zwanghaftes Verhalten oder stereotypes Verhalten äußert. Es werden Sonderinteressen entwickelt. Die Betroffenen tigern sich dann in einen Bereich wirklich hinein und eignen sich ein erstaunliches Wissen an.

STANDARD: Wie kann es sein, dass so komplett unterschiedliche Symptome unter einem Störungsbild zusammengefasst werden?

Seiberl: Gemeinsam ist Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen eine Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation. Die wechselseitige Interaktion zwischen Menschen, die scheinbar so selbstverständlich ist, ist sehr komplex und geht weit über die Sprache hinaus. Da spielen Blickkontakte, Mimik und Gesten eine sehr wichtige Rolle in jeder Form der Interaktion. Und genau diese subtilen Fähigkeiten gehen den Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen ab.

STANDARD: Können Sie Beispiele geben?

Seiberl: Soziale Interaktionen sind sehr vielfältig, insofern ist eine Generalisierung wirklich schwierig. Aber ein Zeichen von Autismus-Spektrum-Störungen kann sein, dass Betroffenen der Blickkontakt mit anderen Menschen schwerfällt oder dass sich Kinder schwertun, Zeigegesten zu verstehen. Viele Betroffene wissen einfach nicht, was die anderen von ihnen wollen. Auch Rollenspiele, die für viele Kinder etwas ganz Normales sind, können eine Unmöglichkeit sein. Oder das Verstehen von zweideutigen Äußerungen wie "Hast du einen Frosch im Hals?" ist unmöglich. Auch Smalltalk schaffen viele nicht. Diese scheinbare Oberflächlichkeit ist eine hohe soziale Leistung.

STANDARD: Ist soziale Interaktion wirklich so schwierig?

Seiberl: Ja, weil es da eben sehr viel Unausgesprochenes gibt. Das kann sich jeder vor Augen führen, der ein Gespräch führt. Das Hin und Her einer Konversation, Unterbrechungen, Einwürfe, oft ist die Körpersprache ja noch viel wichtiger als die Worte. Für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen kann dieses aufeinander Bezugnehmen nicht möglich sein. Viele ziehen sich deshalb zurück. Auch die Einschätzungen von sozialen Situationen und die sich daraus ergebenden Anforderungen verlangen eine hohe soziale Kompetenz.

STANDARD: Wie genau meinen Sie das?

Seiberl: Stellen Sie sich einen Raum vor, in dem gerade eine Geburtstagsfeier zu Ende gegangen ist. Überall Gläser, ein paar umgeworfene Sessel, vielleicht sind noch ein paar Leute da. Menschen mit Autismus können oft nicht einschätzen, was da gerade passiert ist: ein freudiges Ereignis oder ein Streit? Und sie wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Deshalb kann es ihnen auch schwerfallen, eine Arbeit zu finden. Denn Arbeitgeber setzen ja gewisse Dinge voraus, Dinge, die nicht explizit kommuniziert, aber trotzdem erwartet werden. Das macht dann Probleme. Auch repetitive Handlungen oder Zwänge sehen wir oft, sie geben den Betroffenen Sicherheit.

STANDARD: Zurück zu Greta Thunberg und ihrer Form von Autismus, die als Asperger-Störung bezeichnet wird. Was unterscheidet diese Form von anderen?

Seiberl: Eine sehr grundsätzliche Unterscheidung bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung ist die Frage, ob auch die Sprachentwicklung betroffen ist. Ist das der Fall, kommen Eltern sehr früh zu uns in die Ambulanz. Beim Asperger-Syndrom ist die Sprachentwicklung aber genau nicht betroffen. Zudem hat Greta Thunberg auch diese Eigenart dessen, was wir als Sonderinteresse bezeichnen. Es ist eine über die Maßen intensive Beschäftigung mit einem Thema, fast eine Fixierung. Bei Greta Thunberg ist es die Umwelt, und das ist positiv. Es gibt aber auch Autisten, die sich mit ganz sonderbaren Dingen ähnlich intensiv beschäftigen.

STANDARD: Es gab aber in den letzten Tagen immer wieder auch Diskussionen über die genaue Bezeichnung der Erkrankung: Autismus oder Asperger-Syndrom. Warum spielt das eine so große Rolle?

Seiberl: Die Klassifizierung einer psychischen Erkrankung ist deshalb so wichtig, weil sich danach auch die Leistungen der Krankenkassen richten. Wir hier in Europa richten uns nach dem ICD-10, einem Katalog, in dem sämtliche Erkrankungen klassifiziert sind, auch die psychischen. In den USA gibt es den DSM-5, in dem nur die psychischen Erkrankungen enthalten sind. Beide Kataloge werden regelmäßig erneuert, entsprechend den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Gerade bei den Autismus-Spektrum-Störungen hat sich in den vergangenen Jahren einiges verändert. Im DSM-5 wurde vereinfacht gesagt das Asperger-Syndrom in die größere Gruppe der Erkrankungen der Autismus-Spektrum-Störungen integriert. Im ICD-10 ist das noch nicht der Fall, weil es noch keine neue Auflage gibt. Aus dieser Diskrepanz sind dann Diskussionen entstanden. Wir erwarten aber, dass die ICD-11 die gleiche Klassifikation wie der DSM-5 haben wird.

STANDARD: Sie behandeln Menschen mit diesen Erkrankungen. Mit welchem Ziel?

Seiberl: Autismus ist eine Erkrankung, mit der man geboren wird und die auch nicht heilbar ist. Das Therapieziel einer Behandlung hängt natürlich immer vom Schweregrad der Autismus-Spektrum-Störung ab. Insgesamt ist das Ziel, Menschen mit sozialen Defiziten Hilfe zu bieten, um ihnen das Leben in der Gesellschaft zu erleichtern und sie zu integrieren. Man kann beispielsweise Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung, deren Sprachentwicklung betroffen ist, helfen, Strategien zu entwickeln, um sich verständlich zu machen. Zu lernen, anstelle eines Wutanfalls mittels Bildkarten Bedürfnisse auszudrücken, kann etwa ein großer Erfolg sein. Natürlich ist auch die Unterstützung der Angehörigen Teil unserer Arbeit. Es geht darum zu erkennen, wie unterschiedlich der Blick auf die Welt sein kann.

STANDARD: Ist Thunbergs Interesse am Klimaschutz also nur ihr Blick auf die Welt?

Seiberl: Sie hat aus ihrem Sonderinteresse für Klimaschutz eine Mission gemacht und lässt sich durch die Anfeindungen nicht von ihrem Kurs abbringen. Es ist quasi auch ihre Stärke, sich von den anderen nicht abhalten zu lassen. Allerdings ist sie wirklich eine Ausnahme. Viele Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen leiden unter den gesellschaftlichen Anforderungen.

STANDARD: Ihre Empfehlung?

Seiberl: Autismus hat so viele unterschiedliche Formen, das macht Generalisierungen nicht möglich. Jeder Patient und jede Patientin ist ein Fall für sich, nur so können wir unterstützend für sie sein. (Karin Pollack, 19.10.2019)