Die Autobahn über den Brenner: Verbindung zwischen Norden und Süden, zwischen Österreich und Italien, Symbol für Fortschritt und Verständigung – oder doch nur für den Transit-Albtraum?

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Der Brenner war als niedrigster Alpenübergang (1370 m) schon immer von strategischer Bedeutung. Über ihn mühten sich schon die nach Germanien ziehenden Legionen von Tiberius und Drusus; und später überquerten ihn die deutschen Kaiser in der Gegenrichtung, um sich in Rom vom Papst krönen zu lassen. Hier, an der Hauptwasserscheide der Alpen, genügt eine Distanz von wenigen Metern, um Bäche hier in die Adria oder dort ins Schwarze Meer zu leiten.

Auch in neuerer Zeit blieb der Brenner ein kalter und ungastlicher Ort mit einigen schäbigen Kneipen, und auf einem Markt wurde Handel mit Nudeln und Schokolade getrieben.

Die erste Revolution vollzog sich am Brennerpass im Jahr 1867, als Österreich die pionierhaft anmutende Eisenbahnlinie mit ihren kühnen Viadukten eröffnete, die der Postkutschenära ein abruptes Ende setzte.

Staatsgrenze im modernen Sinn

Und dann – vor 100 Jahren – wurde Südtirol mit dem Vertrag von Saint-Germain Italien als Kriegsbeute zugesprochen, und der ungastliche, aber passierbare Pass verwandelte sich erstmals in seiner langen Geschichte in eine Staatsgrenze im modernen Sinn.

Adolf Hitler und Benito Mussolini trafen sich hier 1940, um demonstrativ die Achse Rom-Berlin zu ölen. Nach dem Zweiten Weltkrieg führten über den Brenner jene "Rattenlinien", über die Schmuggler etliche NS-Größen wie Josef Mengele, Adolf Eichmann und Erich Priebke nach Südtirol brachten – von wo sie dann über den Hafen von Genua nach Südamerika flüchteten.

Die Spannungen und Anschläge der 1960er-Jahre in Südtirol belasteten das Verhältnis zwischen Italien und Österreich ernsthaft. Kilometer von Stacheldraht flankierten den Schlagbaum, die Grenzkontrollen waren rigoros: Zwischen Rom und Wien herrschte Eiszeit.

Traum und Albtraum

Tiefpunkt dieser Beziehungen war 1962 die Einführung des Visumzwangs für Österreicher durch die italienische Regierung in Rom. Ein solches benötigte auch, wer bloß schnell von Innsbruck nach Sterzing wollte.

Von all diesen Turbulenzen wissen die Millionen Autofahrer, die heute über die Brennerautobahn rollen, nichts. 1971 bei ihrer Eröffnung als "Traumstraße der Alpen" gefeiert, ist diese Transitroute zwischen Norden und Süden mit ihren 15 Millionen Fahrzeugen jährlich längst zum ökologischen Albtraum verkommen.

600 Meter unter der Passhöhe fressen sich unterdessen rund um die Uhr gigantische Fräsen durchs Gestein. Am Basistunnel wird von beiden Seiten gebohrt. Nach seiner Fertigstellung wird der einst heftig umstrittene Brennerpass für Zugreisende de facto gar nicht mehr existieren.

Schengen-Ära

Es waren die Innenminister Giorgio Napolitano und Karl Schlögl, die im April 1998 den Schlagbaum an der Grenze entfernten und der Schengen-Ära den Weg ebneten. Doch im Juli 2017 war es plötzlich Österreich, das drohte, auf der Passhöhe Panzerfahrzeuge zur Kontrolle der Flüchtlinge und Migranten einzusetzen. Nicht nur für jene, die noch heute – ein Jahrhundert danach – von der "Unrechtsgrenze" sprechen, ein Schock.

Für jüngere Südtiroler ist dieser historisch beladene und belastete Begriff heute aber längst bedeutungslos. "Bei Saint-Germain denken die meisten eher an den Pariser Fußballklub", meint lächelnd der Historiker Oswald Überegger, Leiter des Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte an der Freien Universität Bozen, der einzigen dreisprachigen Hochschule Europas. "Es ist ein schwieriges Jubiläum, denn es ist auch Teil der Geschichte der anderen, der Siegermächte, der Österreicher, der Italiener und der Tiroler." Die über Jahrzehnte angeprangerte Unrechtsgrenze könne die junge Generation "weder optisch noch emotional nachempfinden".

In Tirol nördlich und südlich des Brenners, wo man gerne bei jeder Gelegenheit die Einheit zelebriert, zeigt man sich bei diesem 100-Jahr-Jubiläum auffällig zurückhaltend. Über "eine Landeseinheit des Schweigens" ärgert sich der Bozner Historiker Hannes Obermair. "Wollte man die eigene Rolle im Ersten Weltkrieg nicht reflektieren?"

Zögerliche Erinnerungsarbeit

Auch sein Kollege Hans Heiss ortet eine seltsame Zurückhaltung: "Die Erinnerung an Saint-Germain und die Folgen ist in Südtirol und Tirol über Monate hinweg auffällig umgangen worden." 2019 feiern Tirol und Südtirol zwar mit Pomp und Prunk das "Maximiliansjahr" im Gedenken an den vor 500 Jahren verstorbenen Kaiser Max – während aber die weit prägendere Zäsur von 1919 stockend und spät thematisiert wird: Keine Landesausstellung, kaum Veranstaltungen bisher, die Kulturressorts hüllen sich in Schweigen.

Die Zögerlichkeit der von der Südtiroler Volkspartei (SVP) dominierten Landesregierung wurzelt offenbar in einem Dilemma: Macht man 100 Jahre Südtirol bzw. die "Unrechtsgrenze" zum Thema einer Großveranstaltung, wird diese von den rechten Selbstbestimmungsparteien und den Schützen zur politischen Propaganda genutzt. So hat man es also vorgezogen, das heikle Thema den Historikern zu überlassen. Übereggers Geschichtszentrum organisiert immerhin zwei Tagungen mit 30 internationalen Referenten, in denen auch andere Nationalitätenkonflikte – etwa jene in Dänemark und Ungarn – beleuchtet werden.

Vom Auswanderungsland zur Wohlstandsprovinz

Eine Zwischenbilanz nach 100 Jahren Grenzziehung offenbart auch positive Effekte. In den vergangenen sechs Jahrzehnten wandelte sich Südtirol von einem armen Auswanderungsland zur üppigen Wohlstandsprovinz mit boomendem Tourismus (33 Millionen Übernachtungen) und einem Haushalt von 6,25 Milliarden Euro – in einer Alpenregion, deren besiedelbare Fläche gerade einmal sechs Prozent beträgt.

Gerade die Attraktivität der Region für den Fremdenverkehr ist für viele Südtiroler aber längst zum Albtraum geworden, der Massentourismus stößt schon längst auf wachsenden Widerstand. Wenn – wie letzthin – allein an einem Wochenende 60.000 vorwiegend deutsche Fans zum Festkonzert der Kastelruther Spatzen kommen und alle Betten vom Brenner bis nach Trient belegt sind, dann wären viele Südtiroler der Errichtung einer neuen Barriere am Brenner wohl gar nicht so abgeneigt. (Gerhard Mumelter aus Bozen, 20.10.2019)