Bild nicht mehr verfügbar.

Nach der großen Pekinger Militärparade am 1. Oktober hatte Chinas Staatschef Xi Jinping vom Tian'anmen-Tor gerufen, dass keine Macht der Welt den Aufstieg Chinas aufhalten könne.

Foto: AP Photo/Ng Han Guan

Chinas starker Mann, Xi Jinping, rief sein neugewähltes Zentralkomitee und alle Provinzführer des Landes zur Klausur am 5. Jänner 2018 zusammen. Wenige Wochen zuvor hatte der 19. Parteitag seine absolute Macht bestätigt und ihn als Wegbereiter einer neuen Ära des chinesischen Sozialismus für den weltweiten Aufstieg seines Landes gefeiert. Xi hatte dafür sogar die Parteistatuten erfolgreich verändern lassen.

In seiner Rede triumphierte er nicht darüber. Im Gegenteil. Er sorgte sich, dass ihm die kommunistische Elite in den Rücken fallen könnte. Mit Exkursen über den unerwarteten Niedergang mächtiger Dynastien Chinas bis zur Auflösung der Sowjetunion und ihrer Partei zog er seinen warnenden Bogen: "Einer der Gründe, warum seit altersher Großmächte zusammenbrachen und verschwanden, war ihr Verlust an zentraler Autorität und ihre Unfähigkeit, ihre Einheit zu konzentrieren."

Das könnte auch Chinas Partei drohen, wie Xi am Beispiel der sowjetischen Führung festmacht, deren KPdSU nicht einmal hohe Mitgliederzahlen geholfen hätten. "Anfangs hatte die Partei mit 200.000 Mitgliedern die politische Macht errungen. Als sie im Zweiten Weltkrieg zwei Millionen Mitglieder zählte, besiegte sie Hitler. Doch trotz fast 20 Millionen Mitgliedern verlor sie am Ende ihre Macht." Xi belehrte seine Genossen: "Keiner war damals Manns genug, sich der Auflösung von Partei und Staat zu widersetzen. Warum? Weil die KP-Mitglieder an nichts mehr glaubten, ihre Ideale verloren hatten."

Rede erst kürzlich abgedruckt

Kurz nach seinem Machtantritt in China hatte Xi mit dem gleichen Beispiel in einer internen Rede am 22. Jänner 2013 schon sein damaliges Zentralkomite aufgefordert, Lehren aus dem Zerfall der Sowjetunion zu ziehen. Vier Jahre später ließ er erst den Text veröffentlichen. Auch diesmal wartete er eineinhalb Jahre. Vergangene Woche druckte das Parteimagazin "Qiushu" seine Rede von Jänner 2018 auf zwölf Seiten mit dem neuen Eingeständnis von Xi: "Wir haben heute mehr als 89 Millionen Parteimitglieder und mehr als 4,5 Millionen KP-Basisorganisationen. So, wie ich es sehe, können wir uns nur selbst zu Fall bringen. Es gibt niemand anderen, der das vermag."

Das ist aktuell gemeint. Xi ließ seine Rede wenige Tage nach der großen Pekinger Militärparade am 1. Oktober veröffentlichen. Vom Tian'anmen-Tor hatte er gerufen, dass keine Macht der Welt den Aufstieg Chinas aufhalten könne. International wurde er danach als unangefochtener absoluter Herrscher beschrieben, zumal er sich die Ausübung seiner Präsidentschaft über China durch die Änderung der Verfassung auf Lebenszeit garantieren ließ.

Antikorruptionskampagnen

Doch nach seiner eigenen Sicht, wie er sie in seiner Rede präsentiert, sieht das nicht so rosig aus. Der wirkliche Feind droht aus dem Inneren von der Parteinomenklatur, die an die Ideale von Sozialismus und Kommunismus nicht richtig glaubt. Xi will sie mit fortgesetzten Antikorruptionskampagnen säubern. Mit marxistischen Schulungen und ideologischen Kampagnen will er "Formalismus und Bürokratie" bekämpfen und besonders "die führenden Funktionäre" der Partei auf Vordermann bringen. Viele kommunistische Amtsinhaber scheuten sich, Entscheidungen zu treffen, um keine Fehler zu machen. Sie könnten und wollten nicht gegen die Risiken vorgehen, die Chinas Entwicklung drohen. Xi zitiert dazu Mao, der einst sagte: Wer vorab erkenne, was passieren wird, sei ein richtiger Führer. Wer aber auf einem Kommandoposten sitzt und nichts sieht oder meint, dass alles nur glatt und eben aussieht, sei es nicht.

Die einstige Auflösung der Sowjetunion bleibt für Xi fast 30 Jahre später noch immer ein Trauma. Schon als er Ende 2012 an die Macht kam, fragte er in inzwischen veröffentlichten Reden, ob sich die Mitglieder seiner Kommunistischen Partei als ideologisch standfest erweisen würden, wenn es einmal wirklich darauf ankommt. "Das ist etwas, woran ich ständig denke: Werden unsere Kader unsere Parteiführung und das sozialistische System wie selbstverständlich verteidigen, wenn sich vor unseren Augen sogenannte farbige Revolutionen abspielen?" Dabei dachte Xi damals noch nicht an Herausforderungen für Peking wie die seit vier Monaten rebellierenden Studenten in Hongkong. Damals war auch die Lage in Xinjiang noch nicht so verfahren wie heute, wo Peking hunderttausende Uiguren in Umerziehungslager kasernieren ließ. Und es tobte kein Handelskrieg mit Donald Trump.

Älter als die Sowjetunion

Xis Befürchtungen muten auf Außenstehende befremdlich an. Schließlich könnte er stolz sein, dass seine sozialistische Volksrepublik inzwischen 70 Jahre alt geworden ist. Die Sowjetunion – gegründet am 30. Dezember 1922, aufgelöst am 26. Dezember 1991 – schaffte das nicht. China laboriert auch an der Erfüllung seines 13. Fünfjahresplans (2016 bis 2020), den die Sowjetunion (auch 13. Fünfjahresplan) vorzeitig abbrechen musste.

Xi verfolgt mit seiner Rede vom Jänner 2018 offenbar ein konkretes Ziel. Für diesen Oktober hat er die Einberufung des vierten ZK-Plenums angekündigt. Diese besonders wichtige Konferenz der 300 höchsten Führer Chinas soll die Beschlüsse des letzten großen Parteitags Ende 2017 und damit das "Xi-Denken" und die neue sozialistische Ära unter seiner Führung parteiintern rechtlich und ideologisch umsetzen. Das vierte Plenum war seit mehr als einem Jahr überfällig. Informierte Beobachter sahen in seiner ständigen Hinausschiebung ein Zeichen für den innerparteilichen Dissens angesichts der vielen, in der Partei nicht geheueren Machtfülle von Xi, die er auf dem 19. Parteitag durchsetzen konnte.

Der Parteichef scheint sich inzwischen der bedingungslosen Loyalität aller ZK-Mitglieder sicher zu sein. Aber er hält es offenbar für sicherer, ihre ideologische Linientreue weiter zu erzwingen. (Johnny Erling aus Peking, 18.10.2019)