Eine gute Scheidung ist die bessere Voraussetzung für die zukünftigen Beziehungen der Geschiedenen, der Kinder, ja der ganzen Großfamilie, als eine harte Trennung in Streit, Hader und Missgunst. Alle Beteiligten sollten sich in die Augen schauen, neue Anknüpfungspunkte ihrer Verbundenheit suchen können.

Eine gemeinsame Vergangenheit, gemeinsame Wurzeln, die wird man nicht so schnell los. Die meisten Menschen kennen das. Und doch gelingt es schwer, im Scheidungsfall vernünftig, geordnet, verantwortungsvoll auseinanderzugehen.

Das alles hat mit dem Brexit viel zu tun. Was im persönlichen Bereich gilt, bildet sich im Verhältnis von Staaten ähnlich ab, umso mehr, wenn diese – so wie Mitgliedsländer der Europäischen Union – über viele Jahre durch umfassenden Souveränitätsverzicht weitreichende "Schicksalspartnerschaften" eingegangen sind.

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Am Samstag ist Schicksalstag im Unterhaus. Die Abgeordneten entscheiden, ob es zum geordneten Auseinandergehen kommt.
Foto: AP/Alberto Pezzali

Das war bei den Briten, die vor mehr als vier Jahrzehnten der Gemeinschaft beigetreten sind, der Fall. Auch wenn die jeweiligen Regierungen in London "dem Kontinent" von Anfang erklärten, dass sie gewisse politische Bindungen bei der EU-Integration niemals mitmachen werden, etwa den Euro oder gemeinsame Verteidigung – und sich bei der Harmonisierung der Regeln im Zweifel unwohl fühlten.

Fatales Referendum

Über die Jahre sind so riesige finanzielle Verpflichtungen, wirtschaftliche Verflechtungen und persönliche Bindungen dies- und jenseits des Ärmelkanals entstanden. All das (und noch viel mehr) gilt es jetzt zu entflechten – dreieinhalb lange Jahre nach dem fatalen Referendum zum Brexit, das die einen für einen kolossalen historischen Fehler, die anderen für einen überfälligen Akt der Befreiung und Chance halten. Dass dieser Prozess so schmerzhaft ist, liegt an einem bemerkenswerten Umstand: Der knappe Volksentscheid hat vor allem die britische Bevölkerung gespaltet, das Königreich polarisiert und politisch zerrissen.

Die 27 EU-Partner auf der anderen Seite hat der Austrittswunsch der Briten hingegen geeint, man könnte fast sagen zusammengeschweißt. Das war auch der Grund, warum auf britischer Seite seit 2016 gleich vier Chefverhandler "verbraucht" wurden, Michel Barnier für die EU-27 hingegen von Anfang bis Ende ruhig, besonnen, mit "einer Stimme" Gespräche führen konnte. Diese Umstände waren es auch, die dazu führten, dass der beim EU-Gipfel ausgehandelte – nur in Sachen Nordirland modifizierte – Austrittsvertrag so ist, wie er ist: ein fast 600 Seiten starkes, ausgewogenes, vernünftiges Dokument, mit dem alle Beteiligten im Kompromiss berücksichtigt werden, indem vor allem die vitalen Interessen der Bürger gewahrt werden.

Die Geduld Barniers und der EU-27 hat sich rentiert. Es war vor allem die britische Seite, die zuletzt eingelenkt hat: Ausgerechnet Boris Johnson, der beim Brexit viel gelogen, oft die Taktik geändert hat, erwies sich als einsichtig, dass eine Scheidung ohne Streit doch der bessere Weg sei. Er kennt sich eben aus mit Beziehungskrisen. Diesen Samstag ist nun Schicksalstag im Unterhaus. Die Abgeordneten entscheiden, ob es zum geordneten Auseinandergehen kommt – oder ob der Scheidungskrieg nur in die nächste Runde geht. Es wird verdammt knapp. Das parlamentarische Votum wird prägen, wie die künftigen Ex-Partner einander in Zukunft verstehen – besser oder schlechter. (Thomas Mayer, 18.10.2019)