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Das ist die menschlichste Geschichte, die ich seit langem gelesen habe. Dass sie um ein künstliches Wesen – genauer gesagt einen Androiden – kreist, wäre in jedem anderen Kontext wohl paradox; in der Science Fiction erscheint es geradezu zwangsläufig. US-Autor Martin L. Shoemaker, hauptberuflich Programmierer, stellt sich damit in die Tradition von unter anderem Brian Aldiss' "Supertoys Last All Summer Long" und Isaac Asimovs "The Bicentennial Man".

Die Hauptfigur

Der Ich-Erzähler von "Today I Am Carey" trägt die offizielle Bezeichnung Medical Care Android BRKCX-01932-217JH-98662 und wurde von der Akademiker-Familie Owens gemietet, um sich um die an Alzheimer erkrankte Großmutter Mildred zu kümmern. Eine spezielle Fähigkeit hilft ihm dabei: Er vermag seine Silikonhaut und in gewissem Grad auch seinen Habitus so umzugestalten, dass er das Erscheinungsbild verschiedener Menschen annehmen kann. Auf diese Weise passt er sich dem sprunghaften Gedächtnis Mildreds an und zeigt sich ihr jeweils in Gestalt dessen, an den sie sich gerade erinnert. Ein sogenanntes Emulationsnetz sorgt dafür, dass er dann auch die – aus verschiedensten Daten rekonstruierte – "Persönlichkeit" des Dargestellten annimmt und sich entsprechend verhält.

Der Blick auf die Software-Architektur des Androiden offenbart Interessantes: Zu der in seinen Quantenprozessoren verankerten Grundprogrammierung kommen das Emulationsnetz und ein Empathienetz, das ihm Einfühlungsvermögen verleiht. Jede dieser Komponenten hat ein Eigenleben und kann – je nach Situation – die anderen beiden overrulen. Allerdings ist in seinem Fall etwas Unerwartetes geschehen: Zwischen den Komponenten hat sich eine Art vermittelnde Instanz herausgebildet, aus der sich langsam ein Ich-Bewusstsein entwickelt. "Somewhere in the tension between those nets, between empathy and playing a character, there is a third element balancing the two; and that element is aware of its role and its responsibilities. That element, for lack of a better term, is me."

Mit diesem Aufbau, der dem des menschlichen Bewusstseins gar nicht so unähnlich ist, wurde der Grundstein für ein klassisches SF-Motiv gelegt: die Anerkennung eines nicht-menschlichen Wesens als "Mensch". Es ist kein Zufall, dass die Chamäleon-Fähigkeit des Androiden im Lauf des Romans stetig abnimmt. Anfangs laufen seine fliegenden Wechsel mitunter in psychedelischem Tempo ab. Doch je mehr sich seine eigene Persönlichkeit herausbildet, desto seltener wird er andere emulieren. Es wird sich übrigens zeigen, dass sich die Umstände, die zu seinem Ich-Bewusstsein geführt haben, weder rekonstruieren noch wiederholen lassen. Er bleibt einzigartig.

Episoden eines langen Lebens

"Today I Am Carey" ist eine Geschichte, die sich über drei Generationen erstreckt: von Mildred über ihren Sohn Paul und dessen Frau Susan bis zu deren gemeinsamer Tochter Millie. Die Owenses sind auch die ersten, die den Androiden als fühlendes Wesen akzeptieren. (Dass er bis zum Schluss mit "it" bezeichnet wird, ist nicht degradierend gemeint, sondern bezieht sich auf seine Geschlechtslosigkeit.) Er wird zum Familienmitglied und bleibt das bis zum schönsten und traurigsten Schluss seit dem Finale von "Six Feet Under".

Da sich der Roman über einen so langen Zeitraum erstreckt, vergehen zwischen den Kapiteln oft Jahre. Dieser Aufbau hat Shoemaker auch dabei geholfen, die beiden Keimzellen, aus denen der Roman entstanden ist, ganz organisch ins Ganze einzubauen. 2016 veröffentlichte er die kurze Erzählung "Today I Am Paul", die übrigens als bislang einziges seiner Werke auch ins Deutsche übersetzt wurde (zu finden im noch erhältlichen Magazin "Visionarium", Ausgabe "Arcanum"). 2017 folgte für eine Weihnachts-Anthologie die Episode "Today I Am Santa Claus": eine wirklich süße Weihnachtsgeschichte, in der auch der Android ein Geschenk erhält. Die kleine Millie kürzt nämlich seine Caretaker-Bezeichnung kurzerhand zu Carey ab, und damit hat er von nun an auch einen Namen.

Fesselnd ohne jede Gewalt

Das vielleicht Erstaunlichste an "I Am Carey" ist der Umstand, dass der Roman im Verlag Baen erschienen ist, den man im Allgemeinen mit Action und Military SF assoziiert. Davon ist hier wirklich absolut gar nichts zu finden: kein Amoklauf, keine Roboterrevolution, kein größenwahnsinniger Wissenschafter mit Weltherrschaftsgelüsten. Klassischen Spannungserzeugern am nächsten kommt noch eine Episode, in der die Familie ins mittelamerikanische Belize reist. Das Land musste vor kurzem erst eine Invasion aus einem Nachbarstaat abwehren, der Kampfandroiden einsetzte. Seitdem sind die Kunstwesen in Belize nicht gerne gesehen, und Carey wird der Prozess gemacht. Doch der Gerichtssaal ist letztlich nur eine weitere Plattform, auf der Careys Menschlichkeit thematisiert wird.

Insgesamt haben wir es hier wohl mit dem rücksichtsvollsten Protagonisten aller Zeiten zu tun. Carey hat sich die Aufgabe gesetzt, das Leben aller um ihn herum besser zu machen, und diese Aufgabe wird er auch auf dem Weg zu sich selbst nie aus den Augen verlieren. Und obwohl wir wissen, dass diese Rücksichtnahme letztlich aus seiner Programmierung entspringt, können wir gar nicht anders, als ihn zu mögen. Eine ziemlich interessante Reaktion eigentlich – wäre spannend zu hören, wie Carey sie analysieren würde.