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Norwegen ist in diesem Jahr Gast auf der Frankfurter Buchmesse, die von 16. bis 20. Oktober stattfindet.

Foto: DPA

Wir haben Ibsen so satt", sagt Jens Björneboe. Der Tänzer ist einer der teilnehmenden Künstler an der Oslo Biennale First Edition 2019-2024. An diesem sonnigen Freitagnachmittag im September sitzt er in der Myntgata nahe dem Hafen in der Rauminstallation von Mette Edvardsen. Denn er ist nicht nur ein begeisterter Leser, er ist ein "Living Book".

In Anlehnung an den Kultfilm Fahrenheit 451, der eine Welt beschreibt, in der Lesen verboten ist und alle Bücher verbrannt werden, hat die norwegische Künstlerin ein Projekt geschaffen, in dem 85 Menschen aus aller Welt jeweils ein Buch auswendig lernen und anderen in ihrer Installation namens Time has fallen asleep in the afternoon sunshine vortragen. Jens ist einer von ihnen.

Er hat sich eine Novelle von Kjell Askildsen ausgesucht. Der 1929 geborene Autor ist in Norwegen berühmt und erhielt 2009 den Svenska Akademiens nordiska pris. Jens hat ihn gewählt, weil er seinen knappen, schnörkellosen Stil schätzt. "Er ist kein hipper Typ", sagt Jens, "aber für seine Zeit war er sehr modern." F's letzte Nachrichten an die Öffentlichkeit, die Kurzgeschichte, die Jens als Living Book darstellt, ist 1983 erschienen. Jens' Taschenbuchausgabe ist ganz zerfleddert vom Auswendiglernen. Wer möchte, kann sich den Text von ihm in der Bibliothek vortragen lassen.

Väterliche Bücherverbrennung

Askildsen ist heute nicht so berühmt wie Knausgård, aber als er 1953 zu schreiben begann, waren seine Texte ein Skandal. Sein Vater, ein konservativer Kirchenmann, verbrannte sein erstes Buch in der Öffentlichkeit, und Büchereien weigerten sich, es in ihre Bestände aufzunehmen. "Alle reden heute nur von Knausgård", sagt Jens, "dabei gibt es so viele spannende norwegische Schriftstellerinnen und Schriftsteller." Er nennt zum Beispiel den Autor und Filmemacher Dag Johan Haugerud.

Dass im Ausland meist nur die immer gleichen Namen genannt werden, findet auch die Theaterkritikerin Frøydis Århus. Sie agiert ebenfalls als Living Book und hat sich den Autor Roald Dahl ausgesucht. Was viele nicht wissen: Roald Dahl wurde zwar in Wales geboren, beide Eltern stammen aber aus Norwegen. Roald wurde von ihnen nach dem Polarforscher Roald Amundsen benannt und wuchs zweisprachig (Englisch und Norwegisch) auf. Frøydis ist nicht so streng mit Ibsen wie Jens: "Ich habe fünf Jahre als Führerin im Ibsen-Museum gearbeitet", erzählt sie. "Ibsen geht mir noch immer nicht auf die Nerven. Nur dass er so auf ein Podest gestellt wird. Erst in den letzten Jahren wird zum Beispiel auch seine humoristische Seite beforscht."

Das Ibsen-Museum liegt sehr prominent in der Henrik Ibsens gate, die sich in erster Citylage am königlichen Schlosspark entlangzieht. Der berühmte Dramatiker liebte, so erzählt sie, fixe Routinen. Er nahm mehrmals täglich ein Bad und verließ das Haus stets pünktlich zu seinem Spaziergang. Man konnte, so heißt es, die Uhr nach ihm stellen.

Sein ehemaliges Wohnhaus wurde in den 1990ern auf private Initiative als Museum rekonstruiert. Zuerst mit Möbeln aus der Zeit, dann mithilfe des Kulturhistorischen Museums mit originalen Stücken aus Ibsens Besitz: So konnte etwa seine Badewanne aufgestöbert werden. "Sie war zwischenzeitlich auf einer Kuhweide als Tränke verwendet worden, aber jetzt steht sie wieder in der Ibsens gate", sagt Frøydis.

Sie meint, dass Literatur in Norwegen heute einen größeren Stellenwert hat als Theater. "Es gibt so viele Literaturfestivals, man weiß gar nicht, wo anfangen." An diesem Wochenende möchte man ihr sofort recht geben. Neben der Oslobiennale findet an diesem Tag auch die Oslo kulturnatt 2019 statt, die allein am 13. September über 200 Veranstaltungen in der Stadt versammelt, viele davon haben mit Literatur zu tun: Im Norwegischen Literaturhaus liest z. B. Tharangia Rajah, die 2018 ihr Debüt vorgelegt hat, gleichzeitig beginnt das Sagene-Literaturfestival in der Arendalsgata. Obwohl die öffentlichen Verkehrsmittel in Oslo sehr gut sind, die Stadt wurde "Green Capital 2019", schaffen wir das nicht alles gleichzeitig. Wir haben uns für das feministische Literaturfestival "God Natt, Oslo" im SALT entschieden, einem Pop-up-Kulturdorf gleich neben dem Opernhaus und der Baustelle für die neue Nationalbibliothek.

Warmes, pochendes Herz

An Holzgestellen ähnlich denen, an denen früher die Salzfische zum Trocknen aufgehängt wurden, flattern heute Hemden im Wind. Die Installation der finnischen Künstlerin Kaarina Kaikkonen soll uns daran erinnern, dass "jedes T-Shirt eine Geschichte erzählt, weil jemand mit einem warmen, pochenden Herzen es getragen hat". Überhaupt ist die ganze Anlage sehr alternativ, die bunten Hütten, aus denen vegane Burger und Pizzas gereicht werden, wirken absichtsvoll unfertig, so als hätte ein müdes Kind aus dem Waldorfkindergarten auf halber Strecke die Lust verloren. Dass ein kleines Bier zehn Euro kostet, stört niemanden. Junge Väter mit Hipsterbärten schieben ihre Kinderwagen gelassen durch die Anlage und bestellen sich einen Latte.

Bei der Podiumsdiskussion im traditionellen Langhaus, in dem es um "Et feministik blikk pa kanon", also einen feministischen Blick auf den Literaturkanon geht, sitzen dann doch 18 Frauen und nur drei Männer im Publikum. Das Norwegische ist dem Deutschen beim Zuhören deutlich weniger ähnlich als gedacht, und ich verstehe von dem Gespräch nur die Worte "Feminismus", "Kanon", "interessant" und "Knausgård".

Auf dem Podium sitzen die in London lebende norwegische Autorin Marjam Idriss (ihr Debüt The Gospel According to Jannike erregte 2017 einiges Aufsehen), die Literaturwissenschafterin Tonje Vold und Hanne Linn Skogvan, Redakteurin der feministischen Zeitschrift Fett, die sich anscheinend sehr einig sind und einander immer ausreden lassen. Gestört wird das Gespräch nur vom Sirren der Registrierkassa: Bier und Wein werden sogar während der Lesungen ausgeschenkt.

Alkohol gibt es auch bei der nächsten "Session": Knapp hundert Menschen haben in dem Gebäude Platz, von dem aus wir durch eine raumhohe Scheibe direkt auf den Fjord und das Opernhaus blicken. In den drei Holzöfen wurde schon kräftig eingeheizt, und es blubbert und knistert gemütlich. Aus den Boxen über uns schäumt fröhlicher Bossa nova, den der DJ nebenan live auflegt. Gerade kommt ein Mitarbeiter und macht einen Aufguss oder ein "Ritual", wie man es hier nennt. Denn Sauna ist im SALT nicht Wellness, Sauna ist Party.

Literatur in der SAUNA

Heute ist Sauna auch Literatur: Die Journalistin Hanna Stoltenberg, die mit ihrem Roman Nada 2018 ihr literarisches Debüt vorlegte, nimmt in einem weißen Bademantel auf einem Sessel direkt vor dem Saunaofen Platz. Ihr zur Seite sitzen Ingvild Schade, die aus Bergverket, einer Art "Norwegian Psycho" liest, und die Übersetzerin Hilde Rød-Larsen, die mit Summertime 2019 literarisch debütierte.

Die Musik wird abgedreht, die Autorinnen interviewen einander und kommen dabei heftig ins Schwitzen. Die Saunagäste schwitzen mit. Das Wort wird Leib. Selten hat sich Literatur so körperlich manifestiert. Hanna Stoltenberg läuft die Brille an, mir rinnt der Schweiß über die Brust, ich halte es kaum mehr aus, es wird immer heißer. Trotzdem verlässt niemand den Raum, alle hören aufmerksam zu, das Durchschnittsalter ist Mitte zwanzig, da hat man noch Kondition.

Bei meiner Lesung in der österreichischen Botschaft, die regelmäßig einen literarischen Salon betreibt, darf ich bekleidet bleiben. Das Publikum ist älter, aber mindestens so aufmerksam wie jenes in der Sauna. Anwesend sind deutschsprachige Expats, aber auch interessierte Norwegerinnen und Norweger, die ausgezeichnet Deutsch sprechen. Auch hier fließen Bier und Wein, aber wie in Österreich üblich erst nach der Lesung. Skål! (Tanja Paar, 19.10.2019)