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Tusk (l.) und Juncker (r.) bei einer Presskonferenz mit Barnier und dem irischen Premier Leo Varadkar (beide nicht im Bild) vor einigen Tagen.

Foto: REUTERS/Francois Lenoir/File Photo

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Boris Johnson musste am Samstag eine weitere herbe Niederlage im britischen Unterhaus einstecken. Am Montag hofft er auf seinen ersten Sieg.

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Oliver Letwin machte Johnson einen Strich durch die Rechnung. Durch sein Amendment wurde die Entscheidung des Parlaments vorerst vertagt.

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Während im Unterhaus debattiert wurde, demonstrierten Hunderttausende auf Londons Straßen gegen den Brexit.

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London – Diesmal aber wirklich. Endgültig hätte es diesmal der Tag der Entscheidung sein sollen, der große Triumph für Premier Boris Johnson. "Mein Deal oder No-Deal" hatte der britische Premier den Abgeordneten des Unterhauses eingebläut, noch bevor am Samstag die Sondersitzung begann. Doch einmal mehr kam alles anders: Mit 322 zu 306 Stimmen beschlossen die Mandatarinnen und Mandatare, die Entscheidung noch einmal zu vertagen.

Eine wirklich entscheidende Abstimmung soll nun in der kommenden Woche stattfinden. Dem Vorsitzenden des Unterhauses, Jacob Rees-Mogg, zufolge will die Regierung den Brexit-Plan schon am Montag erneut zur Debatte wie auch zur Abstimmung stellen. Ob dies so kommt, ist offen. Parlamentspräsident John Bercow erklärte, er werde am Montag entscheiden, ob er dies zulasse. Schließlich gibt es eine Übereinkunft im Parlament, dass die selbe Frage während eines gewissen Zeitraums nicht zweimal gestellt werden darf.

Die drei Dokumente, die Johnson nach der Abstimmung nach Brüssel verschickt hat.
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Laut Gesetz musste Premier Boris Johnson allerdings noch am Samstag einen Brief an die EU senden, in dem er eine erneute Vertagung des Brexit beantragte. Nach Angaben von EU-Ratspräsident Donald Tusk traf ein entsprechendes Schreiben gegen 23:00 MESZ in der EU-Hauptstadt ein. Wie die BBC berichtet, hat Johnson den Brief allerdings nicht unterzeichnet. Zudem seien dem Schreiben zwei weitere Papiere beigelegt. Eines, in dem EU-Botschafter Tim Barrow den rechtlichen Hintergrund schildert. Und ein weiteres von Johnson, diesmal signiert, in dem er schreibt, er halte eine Verlängerung für einen Fehler.

Tusk twitterte, er habe den Verschiebungsantrag erhalten und werde nun mit den Spitzen der EU über das weitere Vorgehen beraten.

Tusk kündigte daraufhin an, auf Basis des Ansuchens die Beratungen mit den EU-Staats- und Regierungschefs zu beginnen. Das könne "einige Tage" dauern, erklärte er. Am Sonntagvormittag kamen dafür die EU-Botschafter der 27 verbleibenden EU-Staaten in Brüssel zusammen. Dabei ging es nach Angaben von Diplomaten aber noch nicht um die Genehmigung des Aufschubs, sondern vor allem um eine mögliche Ratifizierung des neuen Abkommens in den kommenden Tagen, also noch vor dem gültigen Austrittsdatum 31. Oktober. Die britische Tageszeitung "Guardian" schrieb unter Verweis auf EU-Vertreter, Brüssel werde den Aufschub gewähren, die britische Regierung müsse allerdings den ersten Schritt machen.

Die EU-Mitgliedstaaten wollen sich mit dem nächsten Schritt jetzt jedenfalls ein wenig Zeit lassen. Sie wollen nicht sofort über den britischen Antrag zur Verschiebung des Brexit entscheiden. EU-Ratspräsident Donald Tusk werde die Mitgliedstaaten "in den nächsten Tagen" konsultieren, sagte der europäische Verhandlungsführer Michel Barnier nach einem Treffen mit den EU-Botschaftern am Sonntag in Brüssel vor Journalisten.

Wie ein Diplomat sagte, nahmen die Botschafter den Verlängerungsantrag "zur Kenntnis". Bei der Entscheidung darüber würden "weitere Entwicklungen auf der britischen Seite" einbezogen.

Boris Johnson am Samstagnachmittag: "'I will not negotiate delay with EU'".
Guardian News

Zunächst Erfolgsmeldungen

So oder so: Für den Premier war der Samstag eine herbe Enttäuschung. Den Vormittag über war bei ihm noch Erfolgsmeldung nach Erfolgsmeldung eingelangt: Die erzkonservativen Abgeordneten der European Research Group hatten ihm ihre Zustimmung zum neuen Deal zugesichert, und auch viele jener Ex-Tories, die er Anfang September aus der Partei ausschließen ließ, wollten für den Austrittsplan stimmen. Sogar mehr als zehn Abtrünnige aus der Labour-Partei planten nach eigenen Angaben mit "Aye" stimmen zu wollen. Kurzum: Zählungen von Journalisten kurz vor der Unterhausdebatte legten einen Sieg für den Premier nahe.

Einen Strich durch die Rechnung machte ihm schließlich sein ehemaliger Parteikollege Oliver Letwin. Dieser ist in Sorge vor einem Brexit ohne Deal und fürchtete eine Finte der Radikal-Brexiteers. Jenes Gesetz, das einen No-Deal-Brexit ausschließen soll, hat nämlich ein Defizit: Der sogenannte Benn Act verpflichtet Johnson nur dann einen Bittbrief um Verlängerung nach Brüssel zu schicken, wenn das Unterhaus bis Samstag um Mitternacht keinen Beschuss über einen Brexit-Deal oder einen No-Deal-Brexit gefasst hat – was nun der Fall ist. Johnson hätte aber nicht um Verlängerung ansuchen müssen, wäre der Vorschlag angenommen worden.

Weil das Gesetz aber später noch ratifiziert werden muss, fürchtete Letwin eine List der No-Deal-Anhänger: Sie könnten nun zustimmen, später aber nicht – und damit No-Deal durchsetzen. Sein Abänderungsantrag verpflichtete Johnson nun, auf jeden Fall um Verlängerung anzusuchen – und verschiebt die Abstimmung über den Deal auf kommende Woche. Sollte diese erneut scheitern, ist für 29. Oktober ein EU-Sondergipfel geplant, heißt es in Brüssel.

Johnson, der sich zuvor kompromissbereit und gemäßigt präsentiert hatte, machte nach dem Votum einen niedergeschlagenen Eindruck. "Ich werde keine Verlängerung verhandeln und das Gesetz verpflichtet mich auch nicht dazu", sagte er – womit er offenbar nicht das bloße Abschicken des Briefes meinte. Das Votum vom Samstag habe allerdings nun "seine Bedeutung verloren", so der Premier, der in Folge seine Abgeordneten zum Nachhausegehen aufforderte.

Oppositionschef Jeremy Corbyn hingegen sprach von einem "klaren Entscheid" des Parlaments. Ian Blackford, Fraktionschef der Schottischen Nationalpartei, wurde deutlicher: Johnson müsse den Brief abschicken, denn "jeder Premier, der das Gesetz missachtet, landet im Gefängnis". Zugleich drängt Labour nun auf Neuwahlen. Diese seien unvermeidlich, sagte ein Parteisprecher am Sonntag. Labour werde außerdem einen Antrag auf eine zweite Volksabstimmung zum Brexit unterstützen.

Johnson habe sich kindisch verhalten, indem die Regierung einerseits einen Aufschub des Brexit bei der EU beantragt habe, Johnson selbst diesen in einem zweiten Brief aber als unsinnig bezeichnet habe, betonte der Sprecher.

Hunderttausende bei Demonstration

Was Johnson grämte, wurde auf den Straßen Londons mit Freude aufgenommen: In jenem Moment, als die Mehrheit für Letwins Amendment verkündet wurde, brachen die Demonstrierenden der Anti-Brexit-Kundgebung in Jubel aus.

Die Veranstalter der Demonstration gegen den Brexit und für ein zweites Referendum sprachen von bis zu einer Million Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Die Polizei wollte vorerst keine Zahlen nennen, beschrieb die Lage aber als "very busy".

Die Demonstrierenden zogen von der Park Lane bis zum Parliament Square, wo mehrere pro-europäische Politiker Reden hielten, unter anderem Bürgermeister Sadiq Khan und die Vorsitzende der Liberaldemokraten Jo Swinson. Auch der Star-Trek-und-X-Men-Schauspieler Patrick Stewart wandte sich an die Demonstrierenden: "Ihr habt nicht nur eine Bar gefüllt, sondern eine ganze Stadt übernommen." Ein zweites Referendum sei nicht unrealistisch.

Weitere Abänderungsanträge

Sollte Johnson mit seinem Deal scheitern, könnte ein zweites Referendum tatsächlich noch auf die Agenda der Abgeordneten kommen: Für diesen Fall will die Regierung nämlich über einen No-Deal-Brexit abstimmen lassen. Ein von der Opposition eingebrachtes Amendment plant den Inhalt des Antrags allerdings umzudrehen und daraus ein Votum über ein zweites Referendum zu machen. Ob es dafür eine Mehrheit unter den Abgeordneten gibt, ist allerdings fraglich.

An anderer Stelle trat einmal mehr die dunkle Seite der Brexit-Debatte hervor: Polarisierung und Hass für die jeweilige Gegenseite. Johnson-Unterstützer Jacob Rees-Mogg musste das Unterhaus begleitet von Polizisten und unter "Verräter"-Rufen verlassen, er hatte seinen 12-jährigen Sohn zur Abstimmung mitgenommen. Auch die Labour-Mandatarin Diane Abbott wurde beim Verlassen des Parlaments von der Polizei geschützt, ihr rückten fanatische Brexit-Anhänger nahe. Viele weitere Mandatarinnen und Mandatare mussten ebenfalls Schutz in Anspruch nehmen. (Manuel Escher, Noura Maan, 19.10.2019)