"Unerhörtes ereignet sich": Im Wiener Burgtheater schickt man ein ganzes Expeditionskorps in die Eiseskälte des hohen Nordens.

Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Island hat der übrigen Welt einige wertvolle Güter vermacht: den Auswurf von Vulkanen, deren Namen für Nichtisländer leider unaussprechlich bleiben. Die freilich markerschütternden Gesänge der Elfe Björk.

Zuvor aber hat die Insel im Nordatlantik der Menschheit die Edda geschenkt: ein zweifaches Massiv aus Schöpfungsmythen und Göttersagen. Diese wurden, streng metrisiert, in den langen Winternächten von ehrwürdigen Skalden über den Herdfeuern gesungen und vor gut 800 Jahren gesammelt. Sie handeln vom Nichts, aus dem sich irgendwann die Weltesche Yggdrasil erhebt.

Expeditionskorps in die Eiseskälte

Götterfamilien fusionieren und entzweien sich; Wallvater Odin opfert der Gabe der Vorsehung sein linkes Auge. Vor allem aber sind die Himmlischen mit der Tatsache ihres baldigen Ablebens sehr unsanft konfrontiert. Auch die Unsterblichen bleiben dem Gesetz der Zeitlichkeit verhaftet.

Im Wiener Burgtheater wird gleich ein ganzes Expeditionskorps in die Eiseskälte des hohen Nordens geschickt: Götter entpuppen sich in Thorleifur Örn Arnassons Edda-Produktion (zusammen verfasst mit Mikael Torfason) als arme Würstchen.

Die zeitliche Problematik ist der segensreichen Unternehmung inhärent. Im Urnebel, der anfangs in dicken Schwaden von der Bühne wabert, dehnt und weitet sich die Weissagung der Seherin (Dorothee Hartinger) zum finalen Gesang. Im Uranfang der Schöpfung ist das ganze Schlamassel, in dem alles zugrunde geht, schon mit enthalten. Die mythische Zeit verrinnt ringförmig. Für jedes analytische Dramenverständnis wirft das zirkuläre Handlungsmodell jedoch immense Probleme auf.

Erzählerin der Superlative

Ein Geflecht aus Leuchtkörpern erzeugt ein heimeliges Nordlicht. Andächtig lauscht man, wie aus den Wimpern eines Riesen eine ganze Welt errichtet wird. Die Suggestivität steigt schier ins Unermessliche, da auch die Erzählerin um Superlative nicht verlegen ist. "Wisst Ihr, was das bedeutet?", fragt die verschwommene Ur-Wala raunend. Sie bestätigt auch gleich die Relevanz von Mimir, Baldur, Muspell und Ragnarök (Götterdämmerung): "Unerhörtes ereignet sich."

Im Wesentlichen entspinnt sich eine locker gefügte, am schlaffen Handlungsfaden geführte Götterrevue: auf flaumigem Eiderdaunenschnee, unter dem entwurzelten Stamm der alten Weltesche (Bühne: Wolfgang Menardi). Von diesem wird Odin (Markus Hering) heruntergeklettert kommen, wie die meisten anderen im kunstvoll geäderten Adamskostüm (Ausstattung: Karen Briem). Die Verbindung zum Publikum hält ein zotteliger "Erklärbär" (Dietmar König).

Daunenweich und leicht kommt das ganze Mythenbrimborium daher. Ein Hauch von Eisrevue weht über die Unternehmung. Irgendwann hat der kahlköpfige Gott Thor (Marie-Luise Stockinger) seinen mächtigen Hammer verlegt. Guter Rat ist teuer bei den Asen. Ein notorischer Betrügergott namens Loki (Florian Teichtmeister) trägt nicht nur einen kleidsamen Alufolien -Anzug. Er bringt einen Anflug von Ferdinand Raimund in das undurchdringliche Geschehen. Drama? Abend mit Fabel? Wegen dichten Nebels geschlossen!

Ein Klaus Nomi des Nordens

Da auch ein zylindrisch behüteter Pianist als Klaus Nomi des Nordens agiert, bleibt alles im wenig verbindlichen Rahmen des bloß Andeutungsvollen. Götter und Menschlein kriechen durcheinander, Riesen und Zwerge, in tolle Wattewülste gepackt, geben ihnen die Ehre. Sketches über die "Political Correctness" lockern das ohnehin schlappe Geschehen noch weiter auf. Auch Mythen können sich schleppen.

Und weil der sagenhafte Snorri Sturloson und die wackeren Skalden Äonen von uns entfernt sind, muss im zweiten Teil ein kahles Baugerüst sich stramm im Kreis drehen. Die Geschlechter der Asen und Vanen sind da einander schon in den Haaren gelegen. Der Fenriswolf haut mächtig auf die Pauke; die Midgardschlange würde jeder Black-Metal-Combo aus Fjordland zur Zierde gereichen.

Göttervater Odin aber trägt plötzlich Anzug. Während ringsum die Hölle der barbusigen Loki-Tochter Hel (Elma Stefanía Ágústsdóttir) fabelhaft verwachsene Plüschwesen ausspeit, erzählt Hering, dieser Schauspieler mit der verstandesklaren Suada, vom Untergang eines Säufers: des realen Vaters von Co-Autor Mikael Torfason. Es ist eine Geschichte unter modernen Wikingern und handelt vom wunschlosen Unglück.

Und siehe da: Ein kleines Wunder geschieht. Inmitten eines furchtbar drolligen und letztlich unerheblichen Abends entsteht ein wahres, dem Untergang geweihtes Leben: die Skizze dessen, was Theater, das sich seiner Kernkompetenzen besinnt, zu leisten vermag. Der Rest war freundlicher Applaus. Und die Erkenntnis, dass nicht alles, was den Theaterpreis Faust erhalten hat, auch wirklich glänzt. (Ronald Pohl, 20.10.2019)