Eine Grabrede. Ein Verbrechen. Man muss sich das einmal vergegenwärtigen: Eine Grabrede, von der da in den Kommentaren und Stellungnahmen gesprochen wird, als wäre sie ein Verbrechen.

Wenn man sich das überlegt, dann muss man sich ernsthaft fragen, ob den Kritikern des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers, Peter Handke, nicht überhaupt schon das Begräbnis für Slobodan Milošević als solches zu viel der Ehre gewesen ist.

Vielleicht wäre ihnen ja lieber gewesen, man hätte den Leichnam des ehemaligen jugoslawischen Staatspräsidenten den Fischen zum Fraß vorgeworfen, so wie das die US-Amerikaner klugerweise gleich mit dem Kadaver des Terroristenführers Osama bin Laden gemacht haben. Oder vielleicht, diese Frage muss man sich stellen, möchten die Kritiker Handkes überhaupt zu den guten, alten Zeiten zurückkehren, als man den Kopf des besiegten Feindes weithin sichtbar auf einen Pfahl gespießt hat, nur um jedem, der dabei noch so etwas wie eine menschliche Regung für den Toten zeigt, ebenfalls sogleich das Haupt abzuschlagen.

Handkes Frechheit: Das Zweifeln, das Stellen von Fragen, das Suchen

Ja, man muss sich fast wundern, dass die Welle des Hasses und der Diffamierung nun nur Handke entgegenschlägt. Man muss sich angesichts der Vehemenz der Kommentare schon erstaunt zeigen, dass noch nicht alle anderen Teilnehmer am Begräbnis ausgeforscht und endlich öffentlich an den Pranger gestellt worden sind, so wie es ihnen gebührt.

Und dann am besten natürlich gleich auch all jene, die noch außer Handke jemals so frech waren, die Nato-Leseweise des jugoslawischen Bürgerkriegs zu bezweifeln oder irgendwann einmal auch nur zögerlich die Frage zu stellen, ob sich wirklich alles ganz genau so zugetragen hat, wie es damals in der Mehrzahl der westlichen Medien dargestellt wurde.

Offenbar scheint es schon zu viel, bloß Fragen zu stellen. Denn wenn man Handkes Buch "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien" liest, dann hat er im Großen und Ganzen lediglich das getan: Vorsichtig Fragen gestellt, wo Gewissheiten verkündet werden, Dinge in Schwebe gelassen, wo er nichts genau weiß, um aber dennoch auf Brüche und Risse hinzuweisen. Nirgendwo hat er Kriegsverbrechen geleugnet oder gar gutgeheißen.

Aber der überbordend einseitigen und nur mehr schwarzweißmalerisch agierenden Darstellung des jugoslawischen Bürgerkriegs, wie sie im Laufe der 90er-Jahre in den westlichen Medien zur Routine wurde, so dass damals stereotyp für alles, was am Balkan Schreckliches geschah, immerzu nur die Serben verantwortlich gemacht wurden – der hat er etwas entgegenzusetzen versucht.

Vor allem hat er etwas getan, was mehr als alles andere den Zorn jener erregt, die für ihre eigenen Auffassungen stets die absolute Wahrheit beanspruchen: Er hat – in schon fast sokratischer Manier – tastend-suchend Fragen gestellt, Zweifel geäußert. Keineswegs hat er letzte Wahrheiten hingestellt. Das blieb schon denjenigen westlichen Journalisten vorbehalten, die so taten, als wüssten sie ganz genau, was im ehemaligen Jugoslawien gerade passiert, obwohl sie in ihren Schreibstuben in Wien, Frankfurt, München, Paris, London oder Washington saßen.

Tradition der Medienkritik

Handke hat sich demgegenüber, wissentlich oder unwissentlich, in die geistige Tradition einer Medienkritik gestellt, die in den 50er- und 60er-Jahren bis noch in die 80er eine ganz große Sache der Linken war, heute aber in Vergessenheit geraten ist und darum weitgehend nicht mehr rezipiert und verstanden wird – vor allem auch nicht mehr verstanden werden will. Namen wie die der Philosophen Theodor W. Adorno und Günther Anders standen einmal dafür. Personen, die unverdächtig sind, jemals auf der Seite von Kriegsverbrechern gestanden zu haben.  

Ganz genauso wie sie wollte Handke vieles nicht so einfach glauben und stellte sich die gewiss nicht dumme, sondern auch heute noch sehr wichtige Frage: In was für einem Bezug stehen gezeigte Bilder, Narrative der Medien und die Wirklichkeit dahinter, muss man alles für wahr halten, was uns von der künstlich zusammengesetzten Welt der Nachrichten als Wirklichkeit hingestellt wird?

Handke steht seit der Nobelpreisverkündung im Kreuzfeuer der Kritik.
Foto: REUTERS/Christian Hartmann

Die späte Rache

Ob Handke mit allen seiner dichterischen Ausformulierungen der Fragen des jugoslawischen Bürgerkriegs ins Schwarze getroffen hat oder nicht, ist eine andere Frage. Es mag beispielsweise sein, dass er dabei zu sehr der serbischen Nationalromantik verfallen ist, wie nun manche sagen, die aufgebrochen sind, um überall etwas Kritikwürdiges an seinem Text über Serbien zu finden, wo man es nur finden kann.

Aber – erklärt so etwas tatsächlich die riesenhafte Welle an wütenden, ja geradezu gnadenlosen Kommentaren, die seit der Verleihung des Literaturnobelpreises an Handke über ihn hereinbricht, wie eine längst sehnsüchtig erwartete Abrechnung?

Man muss sich das einmal vor Augen halten: Nicht einmal mit dem Philosophen Martin Heidegger ist man so umgesprungen, als in den 60er-Jahren seine offene Parteiergreifung für den Nationalsozialismus während der Zeit des Dritten Reichs Thema wurde. Voller Ehrerbietung kam Rudolf Augstein, der Herausgeber des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", zu ihm im September 1966 auf Besuch und befragte ihn dazu. Augstein wusste wohl, was für einen Respekt er dem Meisterdenker schuldig war und konnte dessen Werk und seine politischen Verirrungen auseinanderhalten – und zwar auch um der journalistischen Seriosität willen. Ihm wäre nicht in den Sinn gekommen, so wie jetzt in Griffen bei Handke geschehen, Heidegger einfach irgendetwas Feindseliges hinzuwerfen, das jemand Dritter über ihn gesagt hat, nur um einen medienträchtigen Eklat zu provozieren.

So wie aber nun mit Handke umgesprungen wird, könnte man glauben, er selbst habe höchstpersönlich am Balkan Massaker veranstaltet und Massengräber hinterlassen. Die absurde Unverhältnismäßigkeit der allgemeinen Empörung über Handke wird offensichtlich, wenn man sich klarmacht, dass die gleichzeitige Empörung über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der gerade jetzt die Kurden in Nordsyrien abschlachten und vertreiben lässt, fast schon geringere Ausmaße annimmt. Und die Heuchelei des Westens wird einem bewusst, wenn man sich klarmacht, dass man Milošević für seine Kriegsverbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht hat – während man Erdoğan weiterhin hofiert und seinem Tun nichts entgegenzusetzen hat, als ein paar zahnlose Ermahnungen und fast schon unterwürfig anmutende Bitten und Einwendungen. Denn der ist ja ein Partner.

Ein Exempel wird statuiert

All das lässt nur eine Erklärung zu: An Handke soll ein Exempel statuiert werden. So etwas wie eine späte Rache für seinen ideologischen Ungehorsam vor zwanzig Jahren. Schließlich war er in der damaligen Situation vielleicht der einzige Kritiker des Westens, dessen Stimme man nicht so leicht übergehen oder unterdrücken konnte, weil er einfach zu prominent war. Man wirft ihm jetzt vor, dass er sich von der serbischen Propaganda habe einspannen lassen. Aber wo bleiben die Vorwürfe gegen andere Intellektuelle wie Jürgen Habermas oder Hans-Magnus Enzensberger, dass sie sich damals bereitwillig für die Nato-Propaganda einspannen haben lassen?

Es geht bei all dem um viel mehr als um Handke. Es geht um uns alle. Unsere Meinungsfreiheit ist bedroht. Die bedrohliche Botschaft, die nun in unzähligen Kommentaren und Stellungnahmen gegen Handke verbreitet wird, ist unterschwellig nicht nur eine Abrechnung mit Handke, sondern eine viel fürchterlichere: Jedermann, der es wagt, die Nato-Leseweise des jugoslawischen Bürgerkriegs und die damalige Notwendigkeit der Nato-Interventionen in Zweifel zu ziehen – der befindet sich in Gefahr, mehr oder weniger öffentlich hingerichtet zu werden. Dem stehen vor allem keine Ehrungen zu, erst recht kein Nobelpreis.

Dass Handke dennoch einen solchen erhalten hat, ist für uns ein Affront. Nun soll er dafür von uns als Untier gebrandmarkt werden. Und so wird es jedem geschehen, der es ihm gleichtut. (Ortwin Rosner, 28.10.2019)

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