Nora Schlocker setzt auf der Bühne filigrane Regiestriche.

Foto: Birgit Hupfeld

Was war der Mensch, könnte später einmal jemand fragen. "Auch nur ein winziges Tier", antwortet Ewald Palmetshofer in seinem neuen Stück Die Verlorenen, das am Samstag die neue Spielzeit am Residenztheater München und damit die Ära Andreas Becks eröffnet hat. Es gehört zu jenen Dramen der Gegenwart, die entschieden in die Zukunft blicken und, eine Zeitenwende witternd, das Humane als kosmische Erscheinung auf den Prüfstand heben. Die Verlorenen beklagt die unverschämt dünne Schicht Mensch, die wir uns für gewöhnlich so überziehen, das läppisch überhöhte Selbstverständnis unserer Spezies, die es nicht zuwege bringt, sich der eigenen selbsterklärten Überlegenheit entsprechend zu verhalten.

Dafür benötigt Palmetshofer nur den Plot vom Zuschnitt einer Vorabendserie: Eine Frau, Clara (Myriam Schröder), will im ab gelegenen Haus ihrer Großmutter für einige Wochen eine Auszeit nehmen und verabschiedet sich von ihrem Teenager-Sohn, der beim Vater (Florian von Manteuffel) und dessen neuer Frau (Pia Händler) lebt.

Im Haus findet sie einen jungen Mann vor, Kevin (Johannes Nussbaum), der von zu Hause verstoßen wurde oder geflohen ist und sich hier verschanzt. Sie verstehen sich, haben Sex, doch am nächsten Morgen holt sie die Familie wieder ein: Ihr Sohn wurde von der Schule suspendiert, er hat ein Kind misshandelt und das Video davon zum Spaß verschickt. Schock.

Deformiertheit des Daseins

Menschen tun Dinge, die sie nicht tun sollten. In Die Verlorenen reihen sie sich unspektakulär aneinander, wie die späte Antwort auf entfernte Kränkungen: Eltern missachten ihre Kinder, aber auch ihre eigenen Eltern; Frauen missachten ihre Männer, Männer ihre Frauen sowie ihr eigenes Leben; und irgendjemand hat auch den Dauergästen einer Tankstelle im Dorf (Steffen Höld, Max Mayer und Nicola Kirsch als Wirtin) eingeredet, dass sie nichts wert sind.

Das Besondere an Palmetshofers furiosem Text ist, dass hier kein moralinsaurer Predigtdienst wütet, kein gefühlsduseliges Drama, sondern die Deformiertheit des Daseins schon in der Sprache kenntlich wird: Sätze ersterben, da haben sie kaum begonnen – ihnen fehlt das Durchhaltevermögen; sie geben frühzeitig auf, wo noch etwas Wichtiges zu sagen wäre. Manchmal erscheinen sie gewaltsam amputiert und insgesamt zu schwach, sodass sie sich ständig wiederholen müssen, um etwas zu gelten. Ihre innere Ordnung folgt einer Metrik, die an Gebete oder an die Verse böser Märchen erinnert: "Was sich in Leistungsträgerschaft / in Nützlichkeit zur Macht / nicht rechnet um / tritt besser in Erscheinung nicht."

Palmetshofer gehört schon seit Andreas Becks Zeit als Dramaturg am Burgtheater (bis 2007) zu dessen Theaterfamilie. Danach begleitete Beck als Theaterleiter in Wien, Basel und jetzt München den Werdegang des heute 41-Jährigen. Er gehört fix zum Team, als Edeldramaturg, der in nächster Nähe zur Praxis schreibt und trotzdem ganz eigen in seiner Sprachwelt schürft. In Die Verlorenen setzt er Tragik und Witz ineinander, gönnt den Figuren durch den Wechsel in die dritte Person (er/sie) stellenweise Erholung vom eigenen dramatischen Ich.

Sprechpartituren

Auf diese Sprechpartituren stützt sich Regisseurin Nora Schlocker in ihrer reduzierten, soliden Inszenierung. Sie stellt das in müde Herbstfarben gekleidete Ensem ble (Kostüme: Marie Roth) in einen bis auf ein Kruzifix leeren bühnengroßen Bilderrahmen (Irina Schicketanz), ein Tableau, in dem der Sprechakt alles ist. Das bleibt am Ende aber deswegen dünn, weil nicht allen die nötige Sprechkunst eignet. Dieses Gefälle setzt dem Abend ziemlich zu.

Schlocker stünde indes nicht mit leeren Händen da. Sie setzt in diesem "Literaturtheater" im besten Sinne filigrane Striche. In einer Telefongesprächszene zwischen Mutter und Tochter etwa drückt sich die Angespanntheit des Dialogs ganz simpel im quer über die Bühne zum Zerreißen gespannten Telefonkabel aus. Ein akklamierter Abend, dessen Ereignis in erster Linie der Text blieb. (Margarete Affenzeller aus München, 21.10.2019)