Ultraläufe abseits des Asphalts boomen. Das Laufen auf dem ungewohnten Untergrund muss geübt werden.

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Adharanand Finn: Der Aufstieg der Ultra-Läufer. Eine Reise an die Grenzen der menschlichen Ausdauer. 24,90 Euro, 398 Seiten. Egoth Verlag, Wien 2019.

Beim Oman Desert Marathon werden sich in wenigen Wochen wieder Läufer 165 Kilometer weit durch die Wüste kämpfen. Beim Ultra Trail du Mont Blanc sind es 172 Kilometer bis ins Ziel. Und beim Badwater-Ultramarathon in den USA müssen Teilnehmer sogar 217 Kilometer zurücklegen.

Was nach einer unüberwindbaren Herausforderung für den menschlichen Körper klingt, wird bei Hobbyläufern immer beliebter. Viele wollen sich mit einem Ultramarathon – das ist jede Distanz, die weiter als die Marathondistanz ist – selbst etwas beweisen.

Der Sportwissenschafter und Ultraläufer Gerhard Schiemer ist erst vor wenigen Tagen bei einem 118-Kilometer-Lauf in Kroatien an den Start gegangen. Bei "Ultras" gehe es vielen darum, ihre Grenzen auszuloten und zu verschieben. Für einen 100-Meilen-Lauf – das sind mehr als 160 Kilometer – brauchen manche Hobbysportler 48 Stunden. Für sie werden in den Verpflegungsstationen sogar Feldbetten aufgestellt, in denen sie sich für einige Stunden hinlegen können, bevor es weitergeht.

Halluzinationen in den Pyrenäen

Adharanad Finn, Autor des kürzlich auf Deutsch erschienenen Buches "Der Aufstieg der Ultra-Läufer", erzählt darin auch von Halluzinationen, die er während eines 100-Meilen-Rennens in den Pyrenäen hatte: Er sah in der Ferne immer wieder Gebäude mit Lichtern und Menschen mit Stirnlampen, die gar nicht existierten. Das überrascht Gerhard Schiemer nicht. Teilweise sei man bei den Läufen ja zwölf Stunden völlig alleine, dann sehe man stundenlang nur den Lichtkegel der eigenen Stirnlampe vor sich.

Solche Extremsituationen kann und sollte nicht jeder bewältigen. Gegen schlecht vorbereitete Läufer schützen sich die Veranstalter zum Beispiel mit strengen Cut-off-Zeiten. Das bedeutet, dass man aus dem Rennen genommen wird, wenn man einen bestimmten Punkt nicht innerhalb einer vorgegebenen Zeit passiert. "Bei manchen Läufen kommt deshalb nur ein Drittel der Starter ins Ziel", erklärt Schiemer.

Er läuft die Ultra-Bewerbe nicht nur, er betreut auch andere dabei: Schiemers Hauptklientel ist männlich und 40 bis 45 Jahre alt. Die meisten haben mit Straßenläufen angefangen und sich bei den Distanzen immer weiter hochgehantelt.

Das Training unterscheidet sich nicht sehr vom Training für einen normalen Marathon. Wer schon einige Marathons in den Beinen hat, kann sich laut Schiemer auch einmal Distanzen, die zehn bis 20 Kilometer länger sind, zutrauen. Im Unterschied zum Marathon wird bei einem Ultra nämlich nicht nur gelaufen. "Bergauf wird zügig gewandert", sagt Schiemer. "Gelaufen werden die Verbindungsstücke und bergab." Das Laufen auf unterschiedlichen Untergrundvarianten und die Fortbewegung mit Stöcken müssen vorab geübt werden.

Märsche im Training

Die Ultra-Distanzen selbst solle man im Training selbst nicht zurücklegen, erklärt die Sportwissenschafterin Elisabeth Niedereder vom Fitnessstudio Tristyle. Das wäre viel zu anstrengend. Sie selbst trainiert gerade für den Burgenland Extrem, ein 120-Kilometer-Rennen rund um den Neusiedler See kommenden Jänner. Sie bereitet sich nicht nur mit Läufen, sondern auch mit langen Märschen auf den großen Tag vor. Beim Training muss man sich nicht nur körperlich auf die Herausforderung vorbereiten, sondern auch mental.

Aber wie ist eine solche Leistung überhaupt möglich? Der Körper greift stets nur auf rund 80 Prozent der Energiereserven zu, erklärt der Wiener Sportmediziner Robert Fritz. Die übrigen 20 Prozent könne man mit einem starken Kopf und den richtigen Trainingsreizen anzapfen. "Aber gesundheitlich notwendig ist das natürlich nicht", betont Fritz.

Ultraläufer Schiemer ist überzeugt davon, dass die Psyche eine entscheidende Rolle beim Rennen spielt. Damit die Strecke, die zu bewältigen ist, überschaubar bleibt, verwendet er eine "Portionierungsstrategie": "Ich hantle mich von Labestation zu Labestation und lege mich nicht auf ein großes Ziel fest", sagt er.

Nicht nur Kohlenhydrate

Auch die richtige Ernährung ist wichtig: Läufe mit bis zu acht Stunden kann man laut Schiemer noch mit Kohlenhydraten abdecken. "Umso länger die Distanzen, um so mehr sind bei der Ernährung Fette wichtig", sagt Schiemer, weil die Kohlenhydrate den Magen-Darm-Trakt bei der Anstrengung zu sehr belasten.

Er selbst trinkt auf seinen Ultraläufen ein Gemisch aus Olivenöl, Hanföl und Kokosfett, außerdem mag er bei langen Distanzen Eier. Bei Verpflegungsstationen wird oft Weißbrot, das in Salz und Olivenöl getränkt ist, oder Suppe angeboten. "Ich rate dort auch immer dazu, auf sein Körpergefühl zu hören", sagt Schiemer.

Laut Sportmediziner Fritz sind Trailläufe deshalb so beliebt, weil es bei den Wettkämpfen mehr um ein Miteinander der Teilnehmer als um ein Gegeneinander geht. Außerdem komme man bei diesen Rennen aus dem Sich-Vergleichen heraus: Wer ein Zehn-Kilometer-Straßenrennen absolviert, wird sofort nach der Zielzeit gefragt. Beim Traillaufen ist das schwierig, weil Terrain und Wetterbedingungen immer anders sind. "Für die meisten geht es nicht um die Zeit, sondern darum, es zu schaffen", sagt auch Ultraläufer Schiemer. In einem Jahr könne es bei einem Berglauf super Bedingungen geben, im nächsten einen Schneesturm.

Müdigkeit, Kopfschmerzen, Übelkeit

Vor allem: Jeder Ultralauf ist anders. Sechs Stunden hat Schiemer sich schon gequält, bevor er überhaupt ins Laufen kam. Über die Ziellinie kam er trotzdem. "Das Laufen eines Ultras ist wie der Kurzabriss eines Lebens: Es läuft großartig, kann innerhalb einer Stunde aber schon wieder ganz anders sein", sagt Schiemer. Dann kämpfen viele mit bleierner Müdigkeit, Kopfschmerzen und Übelkeit. Dafür kann es eine Stunde später schon wieder gut laufen.

Auch der britische Journalist Adharanad Finn, der für sein Buch selbst zum Ultraläufer wurde, beschreibt diese Besonderheit: Wenn die verbleibende Kilometeranzahl plötzlich überschaubar wird, geht das Laufen auf einmal wieder. Am Ende eines 100-Kilometer-Rennens kommt er so plötzlich vom qualvollen Dahinhumpeln wieder ins Laufen.

Wer sich selbst und sein Können einschätzen kann und sich gut vorbereitet, riskiert laut Schiemer keine bleibenden Schäden bei solch extremen Distanzen. Durch die Abwechslung von Gehen und Laufen seien Ultramarathons für den Bewegungsapparat sogar weniger belastend als andere Laufbewerbe, ist er überzeugt. Einen ordentlichen Muskelkater darf man sich davon trotzdem erwarten: "Nach meinen ersten Ultras musste ich die Stiegen rückwärts hinuntergehen." (Franziska Zoidl, 3.11.2019)