John Coltrane grübelt: Zur Aura des Labels "Blue Note" trug auch die Fotoarbeit von Francis Wolff bei.

Francis Wolff

"Hier bin ich nun! Von mir erscheint ein Album auf Blue Note! Ist es möglich, dass ich Teil all dessen bin?", schwärmt Gitarrist Bill Frisell rhetorisch als neuestes Mitglied eines Labels, das nicht nur ihn, den Saitenstilisten, prägte. Einst war Blue Note ja Labor innovativer Entwicklungen. Den Label-Mythos wird Frisell allerdings nicht unter Anfeuerung der Gründer Alfred Lion und Francis Wolff bereichern können, zweier vor Adolf Hitler geflohener deutscher Juden.

Frisell wird Labelboss Don Was zur Seite stehen, der selbst nach oben hin über Geschäftsverläufe berichten muss – an Leute, die womöglich gar nicht wissen, dass sie Blue Note besitzen. Das Label, das nun seinen 80er feiert, ist ja Teil des Multis Universal, der selbst Vivendi gehört, einer Firma, die sich nun mit der Absicht trägt, Teile von Universal an den chinesischen Riesen Tencent abzugeben.

Jazz mit Seidentuch

Angesichts solcher Geschäftsdimensionen ist es ein schönes Wunder, dass mit Herrn Was ein Musiker Blue-Note-Boss ist, dem eine gewisse Affinität zu Kreativen unterstellt werden darf. Zum Jubiläum wurde zwar die Recyclingmaschine angeworfen: Blue Note veröffentlicht laufend Vinylausgaben alter Aufnahmen, denen auch Seidentücher, Reinigungsbürsten und Büchlein beigelegt werden. Teil des Blue-Note-Kollektivs sind jedoch nicht nur verblichene Legenden. Mit dabei sind auch hochlebendige Megaseller wie Gregory Porter oder widerborstige Individualisten Marke Trompeter Ambrose Akinmusire.

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Von jener Narrenfreiheit der Gründer Lion und Wolff wird Was natürlich nur träumen können. In der Doku Beyond the Notes von Sophie Huber erzählen Keyboarder Herbie Hancock und Saxofonist Wayne Shorter vom einstigen Jazzparadies, in dem Respekt herrschte. Es habe keine Einmischung gegeben, Künstler sollten sich nicht verbiegen.

"Summertime" als Hit

Lion muss jedoch ein Gespür für eine Authentizität gehabt haben, aus der kommerzielle Erfolge sprießen. Schon zu Beginn bescherte ihm Gershwins Summertime in der Version von Sidney Bechet einen Hit, dem weitere folgten – im Studio unter punktueller Begleitung von Lions mit deutschem Akzent vorgebrachter Anfeuerung: "It must schwing!"

Später passte der Spruch nicht mehr so ganz. In den 1950ern und 1960ern begann sich der Jazz von ein paar Konventionen zu lösen, Blue Note blieb aber seine Oase. Während Lion die Aufnahmen mit Toningenieur Rudy Van Gelder produzierte, schoss Wolff übrigens jene prägenden Fotos, die zur Coolness der Marke beitrugen. Schrulliger Mann: "Wenn er versuchte zu tanzen, wusstest du, dass der Take in Ordnung war", erinnert sich Hancock lachend und die eckigen Bewegungen Wolffs imitierend an Momente, die auch andere bestätigen könnten.

Monk der Kassenkiller

Thelonious Monk etwa, der, ohne Kassenschlager zu sein, jahrelang gefördert wurde. Aber auch andere Klassiker wie Sonny Rollins, Miles Davis, John Coltrane, Jimmy Smith, Art Blakey und Horace Silver. Letztere produzierten Soul-Jazz-Hits wie Song for my Father (Silver)oder Moanin von Blakey. Wichtig: Daneben nahm man auch Freejazzer Cecil Taylor, Ornette Coleman und Eric Dolphy auf, bis das Business abebbte.

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1965 wurde das Paradies nämlich an Liberty verkauft, Lion ging bald ob der kommerziellen Ansprüche entnervt in den Ruhestand. Wolff, der übernahm, starb 1971, und mit Blue Note ging es bergab bis zum Stillstand. Unter dem Dach von EMI, einem Traditionslabel, das es auch nicht mehr gibt, kamen Lebenszeichen: Joe Lovano oder Greg Osby sorgten für Qualität, Cassandra Wilson für Substanz und Reichweite.

Alles neu verpackt

Das Ding hat überlebt. Besonders dankbar muss der aktuelle Boss Sängerin Norah Jones sein. Deren Erstling Come Away with Me wurde 27 Millionen mal verkauft. Es hat mit Jazz nur am Rande zu tun. Aber Mister Was kann jährlich immer noch eine Million davon absetzen. Das rettet ein Label, gibt ihm Luft zum Atmen. Wie einst auch die rappende Band Us3, die Hancocks Cantaloupe Island coverte und mit diesem Blue-Note-Song einen Hit landete.

Auch Herr Was wird von Chartstürmern träumen. Leichter, als solche zu finden, ist es jedoch, Verschollenes zu bergen: So will es der Blue-Boss dem Label Impulse! gleichtun, das mit John Coltranes "verschollenen Alben" reüssiert (aktuell das gediegene Blue World). Bill Frisell wird Was die Daumen drücken. Wenn im Garten der Historie Vergessenes kommerziell erfolgreich ausgebuddelt wird, kann auch Neues finanziert werden. Dieser Marktrealität würden auch Lion und Wolff heute nicht ausweichen können. (Ljubiša Tošic, 21.10.2019)