Grünen-Chefin Regula Ritz umarmt eine Parteifreundin.

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Das Schweizer Wahlergebnis vom Wochenende ist historisch: Noch nie seit der Einführung des Proporzwahlrechts vor hundert Jahren hat eine Partei auf einmal so viele Nationalratssitze hinzugewonnen wie nun die Grünen: nämlich 17. "Die Ökoparteien legen massiv zu und werden eine ernstzunehmende Kraft", schreibt die Berner Zeitung. "Der grüne Erfolg ist historisch und dürfte auf die Mobilisierung von jüngeren Wählern zurückzuführen sein."

Die Jugend hatte wenige Wochen vor den Wahlen die größte Kundgebung auf die Beine gestellt, die Bern je gesehen hatte, mit bis zu 100.000 Teilnehmern.

Auf der andern Seite hat noch nie eine Partei bei einer Wahl so viele Sitze eingebüßt wie nun die Schweizerische Volkspartei (SVP): nämlich zwölf. Mit 25 Prozent Wähleranteil bleiben die Rechtskonservativen zwar größte Partei, doch ihr Einfluss wird sinken, da auch die liberale FDP leicht verloren hat, während die Mitteparteien stabil blieben und das links-grüne Lager insgesamt um mehr als vier Prozent zulegte.

Frauenanteil gestiegen

Und auf den zweiten Blick fällt auf, dass es auch eine "Frauenwahl" war: Die Zahl der Frauen in 200-köpfigen Nationalrat ist von 64 auf 84 gestiegen. "Wir Frauen sind zusammengestanden", sagte die Grünliberale Corina Gredig. "Ich habe dies noch nie so gespürt wie in diesem Jahr: Wir Frauen haben uns überparteilich verbündet." So eroberte im konservativen Innerschweizer Kanton Obwalden erstmals überhaupt eine Frau einen Sitz: die SVP-Vertreterin Monika Rüegger. Unter dem Motto "Helvetia ruft" hatten sich verschiedene Frauenverbände zusammengetan und Frauen ermuntert, zu kandidieren – mit Erfolg.

Wie in Österreich stellt sich auch in der Schweiz die Frage, ob nun die Grünen erstmals in die Regierung einziehen sollen. "Die Grünen sind reif für den Bundesrat", titelt der liberale Tages-Anzeiger und kommentiert: "Wer gewinnt, muss auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen."

Der sozialdemokratische Parteichef Christian Levrat sagte in der Elefantenrunde im Schweizer Fernsehen SRF, das rot-grüne Lager sei nach den Wahlen gestärkt, deshalb sei die Mehrheit von SVP und FDP in der siebenköpfigen Regierung nicht mehr angemessen.

Am Schleudersitz

Freilich sind die Beharrungskräfte im stabilen Schweizer Politsystem stark. Auch die rechtskonservative SVP musste lange warten, bis ihr die Parlamentsmehrheit einen zweiten Regierungssitz gönnte. Deshalb ist nicht sicher, dass Links-Grün bereits im Dezember bei der Bestätigungswahl des Bundesrats (Bundesregierung) eine eigene Kandidatur lanciert.

Im Fall eines grünen "Angriffs" wäre in erster Linie Außenminister Ignazio Cassis von der liberalen FDP gefährdet: Seine Partei liegt nach ihren Stimmenverlusten nur noch knapp vor den Grünen und wäre mit zwei von sieben Vertretern in der Regierung nun deutlich zu stark vertreten; zudem agiert Cassis politisch teilweise ungeschickt, während seine Parteikollegin in der Regierung, Justizministerin Karin Keller-Sutter, die erst vergangenes Jahr neu gewählt wurde, fest im Sattel sitzt.

Das Ergebnis der Nachwahlbefragung ist deutlich: 60 Prozent der Wählenden sind der Ansicht, dass die Grünen oder die Grünliberalen einen Sitz im Bundesrat erhalten sollten. Besonders beachtenswert: die Haltung der Christdemokraten (CVP), die ebenso zu den aktuellen vier Schweizer Regierungsparteien gehört. Die CVP-Partei wird in der Bundesversammlung entscheidend für die Frage sein, ob ein Wechsel im Bundesrat mehrheitsfähig ist. 55 Prozent der CVP-Wählerschaft wünscht sich einen Bundesrat aus dem ökologischen Spektrum. (Klaus Bonanomi aus Bern, 21.10.2019)