Speaker John Bercow sah weder Veranlassung noch Möglichkeit, am Montag über den Brexit-Deal abstimmen zu lassen.

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Ohne Zweifel raus. So sehen es nicht alle.

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Vor dem Londoner Parlament findet am Nachmittag ein Wettkampf der Flaggen statt. Auf dem "College Green", einem dem Palast von Westminster vorgelagerten Rasenstück, berichten die Nachrichtensender nonstop, und Demonstranten liefern den Hintergrund mit ihren Bannern und Flaggen.

Die "Remainer" schwenken die Europa-Flagge, während die "Leaver" mit dem Union Jack ihren heißgeliebten Brexit fordern. Glocken und Trommeln sind zu hören, Rufe werden laut. So leidenschaftlich, wie vor dem Parlament demonstriert wird, gehen die Auseinandersetzungen drinnen im Hohen Haus weiter. Es gibt in diesen Tagen kein anderes Thema im Königreich: Der Kampf um den Brexit überschattet alles.

Auch am Montag hat das britische Parlament keine Entscheidung über den EU-Austrittsvertrag gefällt. Der Parlamentspräsident hat eine Abstimmung aus formalen Gründen abgelehnt. Am Samstag war bereits der erste Versuch gescheitert, den Deal von Premier Johnson zur Abstimmung zu bringen. Das Tauziehen rund um den Brexit im britischen Parlament wird am Dienstag weitergehen.
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Bercows Strich durch die Rechnung

Die Regierung von Premierminister Boris Johnson versuchte es am Montag wieder einmal mit der Brechstange. Das Unterhaus, so lautete der Antrag, solle nochmals den Brexit-Deal beraten, den Boris Johnson mit der Europäischen Union ausgehandelt hatte – und darüber abstimmen, ob er angenommen oder abgelehnt wird.

Schon am Samstag war das Parlament in einer Sondersitzung zusammengekommen, um genau diese Frage zu beantworten, und es hatte dem Premierminister mit der Annahme des Änderungsantrags seines geschassten Parteifreunds Oliver Letwin beschieden: Die Entscheidung muss vertagt werden, bis alle für den Brexit notwendigen Gesetze über die Bühne gegangen sind. Das Haus wollte sichergehen, dass es auf keinen Fall zu einem No-Deal-Brexit, einem ungeregelten Austritt, am 31. Oktober kommen wird.

Johnson erneuter Versuch am Montag lief ins Leere. Parlamentspräsident John Bercow machte der Regierung einen Strich durch die Rechnung: Das Unterhaus könne nicht zweimal innerhalb einer Sitzungsperiode den gleichen Antrag beraten, belehrte der Speaker die Regierung. Eine Wiederholung verstoße schlicht und einfach gegen die Geschäftsordnung.

Festhalten am 31. Oktober

Damit bleibt Boris Johnson nur ein Plan B, um seinen Brexit-Deal zu retten – und der ist langwieriger, mühsamer und riskanter. Er muss das gesamte Gesetzgebungsverfahren unter Dach und Fach bringen und steht dazu noch unter Zeitdruck: Er will den Austrittstermin 31. Oktober unter allen Umständen halten und plant, die zweite und dritte Lesung des EU-Austrittsgesetzes noch in dieser Woche zu gewinnen. Ab Freitag sollen dann "die Lords", wie das Oberhaus genannt wird, in einer Sondersitzung das Austrittsgesetz genehmigen.

Am Montag wurde die "Withdrawal Agreement Bill" (WAB) veröffentlicht, am Dienstag soll das Gesetz in zweiter Lesung angenommen und debattiert werden. Hinterbänkler warten ungeduldig darauf, Johnsons Deal mit Änderungsanträgen versehen. Einige sind dabei dadurch motiviert, das Verfahren möglichst in die Länge zu ziehen. Als der Johnson-Vertraute Jacob Rees-Mogg am Dienstag im Parlament den Zeitplan vorstellte, wurde schnell Kritik laut: Zweieinhalb Tage seien für einen so wichtigen Vertrag viel zu kurz, es müsse mehr Begutachtungszeit geben, meinten vor allem viele Abgeordnete der Opposition. Aber auch die nordirische Unionistenpartei DUP, bis kürzlich Verbündete Johnsons, übte harte Kritik.

Viele (Soll)bruchstellen

Für die Regierung gibt es daher schon am Dienstag zwei kritische Abstimmungen. Zum einen wird gegen 20 Uhr MESZ über die Zweite Lesung des WAB abgestimmt, eine Zustimmung hier gilt als unsicher – für den Austrittsdeal hatten Beobachter am Samstag ja allenfalls eine knappe Mehrheit gesehen. Danach wird noch über das Vorhaben der Regierung abgestimmt, den Gesetzgebungsprozess bis Donnerstag abzuschließen. Das gilt als riskant für Johnson und Co, weil ja schon am Montag zahlreiche Abgeordnete Zweifel an der kurzen Zeitspanne geäußert hatten. Fällt die Regierung bei einer der beiden Abstimmungen durch, ist eine Vertagung des Austritts wohl unvermeidbar – oder, wenn die EU dem nicht zustimmen sollte, ein No-Deal-Brexit am 31. Oktober.

Riskant wird es für Johnson aber auch danach noch – wenn in den Komiteeverhandlungen Mittwoch oder Donnerstag Änderungsanträge angenommen würden, die seinen Deal radikal ändern. Die Liberaldemokraten erwägen etwa, das Paket aus Austrittsvertrag und dazugehörender politischer Erklärung zum Gegenstand eines erneuten Referendums zu machen, bei dem die Alternative der Verbleib in der Europäischen Union ist. Das wäre für Johnson nicht annehmbar.

Eine andere Idee verfolgt Labour: Man will einen Änderungsantrag durchsetzen, der einen Verbleib Großbritanniens in der Zollunion vorschreibt. Ein solcher "weicher" Brexit stände in völligem Widerspruch zu allem, was Johnson dem rechten Flügel seiner Fraktion bisher versprochen hat, denn eine unabhängige Freihandelspolitik für das Königreich wäre damit nicht möglich.

Zollunion und Neuwahlen

Labour führt darüber zur Zeit Gespräche mit der DUP. Die nordirischen Unionisten haben mit ihren zehn Abgeordneten bisher Johnsons Minderheitsregierung gestützt, befinden sich aber jetzt auf den Barrikaden – aus Protest gegen seinen Brexit-Deal, der eine Grenze in der Irischen See zwischen Nordirland und Großbritannien errichtet. Ein DUP-Politiker drohte Johnson mit einem "parlamentarischen Guerilla-Krieg". Die DUP wäre für eine Zollunion zu gewinnen, vorausgesetzt, das gesamte Königreich – einschließlich Nordirland – gehört dazu. Sollte solch ein Änderungsantrag Erfolg haben, würde Johnson seinen Deal wohl lieber fallen lassen und Neuwahlen ansteuern. Die Aussichten für einen Deal mit den Unionisten scheinen aus Labour-Sicht aber eher gering.

Derweil hält Brüssel still. Der Brief mit der Bitte um eine Fristverlängerung ist termingerecht eingetroffen und angenommen worden. EU-Ratspräsident Donald Tusk konsultiere jetzt die EU-27, bestätigte am Montag eine EU-Sprecherin: "Von unserer Seite verfolgen wir die Ereignisse in London natürlich sehr genau." Man will in Brüssel erst einmal sehen, wie sich die Briten aussortieren werden. Das kann dauern. (Jochen Wittmann aus London, red, 21.10.2019)