Die Familien mit Kindern fliehen: Bewohner des syrischen Kurdengebiets treffen in Camp Bardarash unweit von Dohuk in der autonomen Kurdenregion im Irak ein.

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Wien – Zum Gesprächstermin beim STANDARD kommen sie mit der U-Bahn durch das friedliche Wien angefahren, doch in ihren Gedanken sind sie weitab von derlei Alltäglichkeit. Hüseyin Akmaz, Außensprecher des Rats der Kurdischen Vereine in Österreich (Feykom) hat drei, wie sie sich vorstellen, "kurdische Aktivisten" aus Rojava, dem de facto autonomen, selbstverwalteten Westkurdistan im äußersten Norden Syriens, mitgebracht.

Die drei – zwei Männer und eine Frau, die alle schon jahrelang in Österreich leben, hier Asyl haben respektive bereits eingebürgert sind – stammen aus genau diesem Gebiet in Syrien, in dem die Türkei seit Mittwoch vergangener Woche eine militärische Offensive fährt.

Vater, Bruder, Schwester

Sie haben Verwandte dort und bangen um sie. Xoybun Qamischlo – so sein, wie er sagt, "Deckname" – etwa, der in der hart an der Grenze zur Türkei befindlichen Stadt Quamischli Vater, Bruder und Schwester hat und mit ihnen in regelmäßigem Kontakt ist.

"Mein Vater meint, jeder Mensch hat Angst. Aber er und die Familie würden ihre Häuser nicht verlassen und aus der Region fliehen", sagt der junge Mann. Aus Furcht vor nächtlichen Raketenangriffen türkischer Einheiten übernachteten die Verwandten aber derzeit unter freiem Himmel: "Am Abend fahren sie ein Stück ins Landesinnere und kehren erst am Morgen zurück."

Kobane bisher verschont

Das sei auch in Kobane nicht anders, jener südlich gelegenen Stadt in Rojava, wo der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan eine vorerst 120 Kilometer lange und 30 Kilometer breite "Sicherheitszone" errichten möchte, sagt Feykom-Mann Akmaz. Erdogan, so meint er, hätte wohl gerne Kobane direkt angegriffen. Dafür jedoch habe er in Erinnerung an den dortigen erfolgreichen Abwehrkampf kurdischer YPG- und HPG-Einheiten sowie der Freien syrischen Armee gegen die Terrormiliz IS "nicht einmal von US-Präsident Trump ein Okay bekommen".

Tatsächlich starteten die türkischen Attacken ein Stück weiter nördlich. Laut den Berichten der wenigen in der Region verbliebenen Hilfsorganisationen schlugen sie bisher an die 130.000 Menschen in Richtung Irak in die Flucht. Ebenso viele seien fürs Erste in der im Nordosten Rojavas gelegenen Stadt Hassake gestrandet, schildert Ruken Kobane – auch dies ein Deckname. "Die Frauen mit Kindern und die Großeltern fliehen, die Männer und die Jugend bleiben zurück", sagt die kurdische Journalistin, die die Ereignisse in Wien per Satellitenfernsehen aus dem betroffenen Gebiet verfolgt.

Kurdenmiliz soll bleiben

Den von den USA mit der Türkei ausgehandelten Abzug der kurdischen YPG-Einheiten bis Dienstagabend lehnt die junge Frau ebenso wie Qamischlo ab. Die Kämpfer müssten ausharren, um die in den Städten verbleibenden Zivilisten zu verteidigen, sagt er. Auch das Abkommen mit dem syrischen Regime, das Truppen ins Konfliktgebiet verlegt hat, sei richtig gewesen: "Wir hatten keine andere Wahl."

Hinter dem türkischen "Sicherheitszonen"-Plan vermutet er weitreichende Umsiedlungspläne im derzeitigen Kurdengebiet. Die Kurden sollten "vertrieben werden", um arabischen Flüchtlingen aus der Türkei Platz zu machen. Für diese wäre dann – freiwillig oder auch nicht – die Weiterreise in die EU keine Option mehr. Die Flüchtlingsumsiedlung ist eine in der Türkei bereits kommunizierte Überlegung.

Flugverbotszone gefordert

Angesichts all dessen müsse auch Österreich handeln, sagen die kurdischen Aktivisten. Die hiesigen Politiker müssten sich "international dafür einsetzen, dass der türkische Angriff gestoppt wird, sowie für Waffenexporte und eine Flugverbotszone über Rojava".

In Österreich selbst sei der Konflikt noch nicht so zu spüren wie in Deutschland. Dort gab es dieser Tage zwischen kurdischen und türkischen Migranten handfeste Auseinandersetzungen. (Irene Brickner, 21.10.2019)