Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Wetter und Klima. Und natürlich lässt sich von einem einzelnen Tag kein Rückschluss auf Letzteres ziehen. Nein, auch dann nicht, wenn es zwei oder drei Jahre in Folge an genau diesem Tag schlicht und einfach zu warm für das letzte Oktoberdrittel ist.

Ende Oktober könnte es im Salzkammergut auch eisig regnen, heftig pfeifen und schlicht und einfach "wäääh" sein. Sonne satt und knapp 25 Grad in einer der schönsten Landschaften Österreichs sind also einfach Glück – und Wetter.

Foto: Thomas Rottenberg

Denn alles andere würde uns hier und heute vom Thema ablenken. Obwohl jeder Bergler, jeder Hotelier, jeder mit Augen im Kopf Beobachtungen und Erzählungen von auf den ersten Blick Kleinstveränderungen parat hat. Jede für sich sagt wenig – in Summe aber wird ein Bild daraus: kurze Hosen auf 1.800 Meter Seehöhe etwa.

Oder Gelsenattacken am Abend am Ufer. Ende Oktober? Möglich – aber früher nicht Normalität. Heute schon. Da könnte man glatt ins Grübeln kommen. Aber Grübeln ist schlecht für das, wovon Österreich lebt: die Stimmung. Der Tourismus.

Foto: ©Maria Grandl

Auch Laufen ist Tourismus: Wenn Ende Oktober etliche tausend Leute an den Wolfgangsee reisen, um einmal rundherum zu laufen, ist das der allerletzte Kick der Sommersaison.

Nach dem Lauf, Sonntagnachmittag, sperren viele Hotels zu – bis zum Winter. Bisher. "Wir überlegen, länger offen zu halten – es ist jetzt länger warm als früher. Und auf den Winter ist kein Verlass mehr." Aber vielleicht ist das alles Zufall – und nur Wetterglück.

Foto: Thomas Rottenberg

Wenn diese nicht repräsentative Häufung von Hochsommertagen im Altweibersommer nur Wetter ist, ist alles gut. Großartig. Perfekt. Dann entspricht sogar das der Erwartungshaltung.

Passt zu dem, was der Wolfgangsee seit 48 Jahren für die Laufwelt und seit drei Jahren für mich ist: ein wundervoller Pflichttermin. Eine Traumvisitenkarte für alles, was Laufen, das Salzkammergut und ziemlich alles, was mich glücklich macht, sein soll. Eine Metapher für das Leben: nicht einfach – aber genau deshalb wunderschön.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber beginnen wir chronologisch. Beim Start: Wer den Wolfgangseelauf nicht kennt, sollte das ändern. Ganz dringend. Das sage ich nicht, weil ich heuer (so wie die beiden Jahre zuvor auch) zwei Startplätze spendiert bekommen habe, sondern weil ich es meine.

Die beiden ersten Male habe ich hier "nur" den Uferlauf gemacht. 10 wunderschöne Kilometer. Rund um den halben See, das flache, weite Ufer entlang.

Nur ist der Zehner – oder auch der 5,2k-Panoramalauf – nicht das, was den Lauf berühmt macht: Der Wolfgangseelauf ist vor allem der "Klassiker" – die knackigen 27 Kilometer einmal ganz rundherum. Oder aber der Marathon: Da hängt man vor der Runde noch 15 Kilometer von Ischl nach St. Wolfgang dran.

Foto: Thomas Rottenberg

Die beiden kürzeren Läufe sind fast bretteleben und auch wunderschön. No na: Die Blicke auf See, Berge, Ortschaften und Wälder schlagen – wenn das Wetter passt – jede Postkarte.

Ein Traum. Ganz besonders, wenn man – das gilt in jedem Fall – sich diese Blicke selbst "erarbeitet". Auch dann, wenn man keine Zeit hat, stehenzubleiben und einfach nur zu genießen: Das wäre natürlich auch wunderschön – aber auf eine andere Art.

Foto: Thomas Rottenberg

Auf den beiden längeren Läufen, "Klassiker" und Marathon, gibt man sich nicht nur wegen der Distanz die Kante: Drei Kilometer nach St. Wolfgang wartet der "Falkenstein". Der 770-Meter-Hügel mit seinen 220 Metern Lauf-Anstieg ist als Spaziergang super, beim Laufen aber ein Knock-out-Kriterium: Nicht so steil, dass man ihn als Normalo nicht halbwegs derrennen würde. Schon gar nicht, wenn man eh noch frisch ist.

Nur kommen danach halt noch 24 Kilometer – also mehr als ein Halbmarathon. Und das vergessen alle Jahre wieder viele, die sich hier grandios "abschießen".

Foto: Thomas Rottenberg

Abschießen geht ganz einfach: Man rennt wie irr vom Start weg los – um nur ja genug Platz zum Rauflaufen zu haben.

Denn dann, wenn das Hauptfeld anrollt, kann man hier nicht einmal dann rennen, wenn man es könnte. Weil sich zu viele Leute die Serpentinen hinaufstauen.

Das ist – im Pulk – natürlich lästig, aber ziemlich sicher auch ein Segen: Hier nicht overpacen zu können rettet etlichen, die hier ganz besonders laut motschgern, den Lauf.

Foto: Thomas Rottenberg

Doch sogar das Raufgehen frisst bei vielen schon zu viele "Körner": Schon beim Runterlaufen beginnt das große Sterben derer, die zu weit vorne starten – und im Sog der Masse den fatalen Fehler erst bemerken, wenn es zu spät ist.

Faszinierend daran ist, dass das kaum jemanden hindert, diesen Fehler immer wieder zu wiederholen. Wenn dann am Anfang noch ein Hügel im Spiel ist …

Egal: Ich muss es ja nicht verstehen.

Foto: Thomas Rottenberg

"Meinen" Falkenstein war ich gemütlich und defensiv angegangen – und das war richtig so.

Die Labe danach erreichte ich nicht mit hängender Zunge und Oberschenkeln, die schon fast zugemacht hatten, sondern locker und entspannt: Sollen sie kommen, die 21-oder-wie-viel-ihr-auch-seid übrigen Kilometer!

Foto: Thomas Rottenberg

Beim "Klassiker" starteten heuer 2.000 Läuferinnen und Läufer. Das ist neuer Rekord. Aber wohl auch die Kapazitätsgrenze dieser Strecke.

Obwohl das vielleicht gar nicht stimmt. Denn beim Anstieg wären einander auch 500 Menschen schon so im Weg, dass man über "nix geht mehr" reden könnte. Doch der Hügel ist so selektiv, dass sich das Feld dann schön auffädelt.

Foto: Thomas Rottenberg

Sogar auf den schmalen, dramatisch zwischen Fels und Ufer gepickten Passagen ist zügiges Laufen und Überholen nie ein Problem: "Komme links" – ein Viertelschritt zur Seite – "Danke!"

Dass es immer "Problembären" gibt, die unbedingt nebeneinander laufen wollen oder sich partout breitmachen, ändert daran nichts: Das Gros der Läuferinnen und Läufer ist freundlich, höflich und kollegial – man rennt nicht, um zu gewinnen, sondern um zu genießen.

Ja, das geht auch auf Anschlag.

Foto: Thomas Rottenberg

Dann, kurz vor St. Gilgen, liegt da ein Altersheim. Dass die Bewohnerinnen und Bewohner "Läuferschauen" kommen, ist eh klar.

Hier, hatte ich von mehreren Seiten gehört, sei einer der emotionalsten Punkte der Runde. Wirklich verstanden hatte ich das nicht: Ein paar Pensis – so what?

Aber als wir vorbeikamen, als wir die alten Herrschaften anfeuern sahen – und viel früher schon hörten –, kapierte ich es. Ein – positiver – Gänsehautmoment: Eine Erinnerung daran, dass man aus jedem Moment etwas Schönes, etwas Einzigartiges, etwas Fröhliches machen kann.

Foto: Thomas Rottenberg

Ab St. Gilgen kann man "ballern" – um mein Hassvokabel deutscher Laufforen zu strapazieren. Wenn man will und kann: Es geht am komfortablen, breiten Uferradweg zügig dahin. Bootshäuser, Villen, Landschaft – und immer der Blick übers Wasser. Man frisst Kilometer. Plaudert, lacht und genießt. Und merkt, dass es warm ist. Richtig warm. 23, manche sagten auch: 25 Grad – und das Ende Oktober.

Perfektes Wetter. Aber für manche schon zu warm. "Ich dachte, das wird ein Herbstlauf!"

Foto: Thomas Rottenberg

Umso wichtiger ist die Versorgung. Die funktionierte vorne (wir liefen am Ende des ersten Drittels) perfekt. Aber auch von hinten habe ich – im Gegensatz zu anderen Läufen – beim Wolfgangseelauf noch nie von leeren oder unbesetzten Labestellen gehört. Genau darum geht es aber: Dass auch die, die es am meisten brauchen, das Gefühl bekommen, vollwertige Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu sein.

Eine Besonderheit beim Klassiker ist, dass es auf halber Strecke Bier gibt. Echtes Bier. Also mit Alkohol. Nicht mein Ding, aber sympathische Folklore.

Foto: Thomas Rottenberg

Wir waren gut unterwegs. Schneller und zügiger, als – zwei Wochen nach Barcelona und eine Woche nach Graz – erwartet oder geplant: Wenn es läuft, läuft es eben. Wir überholten mehr, als wir überholt wurden.

Das ist immer ein Zeichen dafür, am Anfang alles richtig gemacht zu haben – und wenn man sich dann in einer Gruppe findet, in der alle etwa das gleiche Tempo gehen und trotzdem lachen, wird aus gut perfekt: Energielöcher stopft man, indem man sich ziehen lässt – und plötzlich ist da wieder Power. Denn Laufen passiert im Kopf.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber die letzten zehn Kilometer sind trotzdem zehn Kilometer – auch wenn sie hammerschön sind: Die 17, dann 20, dann 23 Kilometer in den Beinen beginnen nicht nur wir zu spüren.

Immer mehr müde Geher und Krampf-Ausdehner sind jetzt auf und neben der Strecke, und wir schnupfen sogar noch allerletzte 10k-Läufer. Hochmut oder Spott gibt es hier nicht – Respekt dafür umso mehr: Jeder und jede kämpft gerade hart – und wird heute gewinnen.

Foto: Thomas Rottenberg

Dann geht es noch einmal sanft bergauf. Und wir wundern und freuen uns, wie rasch aus kraft- und mutlosen In-Richtung-Ziel-Trottern durch den bloßen Zuruf "Du bist bis hierher gelaufen – und willst jetzt gehen? Los, trab – du kannst das!" wieder Läufer werden, und plötzlich ist St. Wolfgang da.

Vorbei am Kiosk, in dem das ganze Jahr über Advent ist, ein letzter, schneller Blick zwischen Bäumen und Zusehern hinüber auf den See – und dann geht es die steil abfallende Dorfstraße hinunter in Richtung Ziel.

Foto: Thomas Rottenberg

Links Weißes und Schwarzes Rössl. Vorne die Kirche. Am Straßenrand Menschenmassen. Viele haben den Fünfer oder Zehner gemacht und brüllen jetzt die 27er und Marathonis ins Ziel.

Hier geht keiner mehr. Im Gegenteil. Plötzlich, auf den letzten 100 Metern, werden wir links und rechts überholt, dass uns Hören und Sehen vergeht. So, als würden drei gewonnene Sekunden nach zweieinhalb Stunden noch einen echten Unterschied machen.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber wenn es die Zielsprinter glücklich macht, ist das genau richtig: Es geht schließlich darum, mit dem subjektiv richtigen Gefühl und einem fetten Grinser anzukommen. Mit dem Gefühl, das Beste, was heute drin war, aus sich und diesem Tag geholt und gemacht zu haben: "Be today’s best version of yourself" hörte ich einmal irgendwo bei einem Triathlonstart. Das trifft es.

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Und ob man da frohlockend hüpft oder entkräftet-glücklich am Boden liegt, macht (das ist was anderes als Kollabieren!) später keinen Unterschied: Wer hier liegt, hat es geschafft – aus eigener Kraft. Wird in ein paar Minuten aus eigener Kraft wieder aufstehen. Als Sieger. Als Phönix aus der Asche.

Auch das ist einer dieser großen Lerneffekte des Sports: Man lernt, wie rasch man regeneriert. Wieder zu Kräften kommt. Schmerzen und Verzweiflung? Der Stolz, die Freude sind größer. Stärker. Nachhaltiger – und wichtiger: Laufen – eine Metapher.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Wolfgangseelauf ist kein einfacher Lauf – aber eines der landschaftlich schönsten Lauferlebnisse in diesem an traumhaften Landschaften so reichen Land.

Es war mein dritter Wolfgangseelauf, aber mein erster "Klassiker". Doch um zu lernen, zu erkennen, zu spüren, was für ein Privileg es ist, in so einem Setting laufen – und leben – zu dürfen, spielen weder Distanz noch Zeit eine Rolle.

Vielleicht aber der Blick auf das Wetter: Ende Oktober können 25 Grad einfach ein schöner, traumhafter Zufall sein.

Oder aber die Vorboten von etwas ganz anderem.


Mehr Fotos dieses Laufes und dieses Wochenendes am Wolfgangsee finden Sie auf Tom Rottenbergs Facebook-Seite

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die beiden Startplätze waren eine Einladung der Veranstalter des Wolfgangseelaufs.

(Thomas Rottenberg, 23.10.2019)

Foto: Thomas Rottenberg