Die Debatte thematisierte nicht das eigentliche Motiv des mutmaßlichen Täters, kritisiert im Gastkommentar Journalist und Autor Nico Hoppe.

Dass er Juden als Quelle allen Übels ansehe, machte der mutmaßliche Täter von Halle sowohl in einem Livestream als auch in einem Bekennerschreiben deutlich. Eigentlich sollte dies Grund genug sein, sich ausgiebig mit Antisemitismus zu befassen, auch weil sich dieser schließlich seit Jahren wieder offener von rechter, linker und islamischer Seite zeigt.

Der Zugang zur Tat selbst und zum Motiv verblieb in den meisten Reaktionen jedoch instrumentell und bekenntnishaft: Man drückt seine Solidarität aus und bekräftigt seine Bestürzung. Man ist empört und ruft betroffen zum hundertsten Mal "Nie wieder!" und "Wehret den Anfängen!". Und man fragt immer routinierter, wie so etwas in Deutschland denn plötzlich wieder möglich sei.

Es ist wichtig, gegen Antisemitismus aufzustehen. Doch die Debatte nach dem Anschlag von Halle blieb oberflächlich.
Foto: imago/epd/Christian Ditsch

Eine Überraschung ist das militante Ausbrechen von Judenhass jedoch nie – vor allem nicht dort, wo das Reagieren auf sich häufende antisemitische Straftaten gleichbedeutend damit ist, mitleidig vor sich hin zu schwätzen und weitere, de facto nutzlose Antisemitismusbeauftragte einzustellen. Dass auch diesmal kein seriöser Umgang mit dem Thema in Sicht ist, zeigen die dutzenden Verlautbarungen von einem "Angriff auf uns alle": Was nett gemeint sein mag, täuscht letztlich darüber hinweg, dass eben nicht "wir alle" gemeint waren; dafür aber ganz konkret Juden. Postmoderne Modebegriffe wie "toxische Männlichkeit" oder das Unterordnen von Antisemitismus unter den Oberbegriff des Rassismus helfen ebenfalls nicht weiter und vertuschen zwangsläufig das Wesen virulenten Judenhasses.

Palavern über "Hass" ...

So manche Berichterstattung beschränkte sich dagegen komplett auf bequeme Füllwörter: Etwa wenn, wie beim MDR, von "Hass" die Rede war, obwohl man das Motiv Antisemitismus stattdessen beim Namen nennen könnte. Das ist zwar merkwürdig, folgt aber einer eigenen, cleveren Logik, denn das Palavern von "Hass" ist für jedermann äußerst praktisch, es tut schließlich niemandem weh. Solcherlei Affekte – da ist man sich einig – liegen einem fern. Würde man dagegen den Fokus auf Judenhass in all seinen Facetten legen, könnte ja zum Vorschein kommen, dass das Ressentiment einem doch näher ist, als man gern glauben möchte.

Bevor diese Ahnung jedoch aufkommen konnte, war man schon längst dabei, die Geschehnisse im jeweils passenden Sinne auszuschlachten. So sah man bei Zeit Online mit dem Anschlag zugleich die Chance gekommen, muslimischen Antisemitismus als fiese Lüge dunkeldeutscher Rassisten hinzustellen: Mit der Legende vom "pathologisch antisemitische[n] Muslim [...] ließ sich die Verächtlichmachung des Islam prächtig hinter dem 'Nie wieder!' der Bundesrepublik verstecken" hieß es da, um kurz darauf Karl Lauterbach (SPD) und anderen aufrechten Mahnern beizupflichten, dass der AfD ein erheblicher Teil der Schuld an dem Anschlag zu geben sei. Man ging schnell zum Tagesgeschäft über: Wozu braucht es noch eine Analyse, wenn man ein versuchtes Massaker so perfekt in sein vorgefertigtes, verstocktes Weltbild einfügen kann, dass am Ende der Gleichung immer die ewig gleiche Anklage des politischen Gegners steht?

... statt Analyse der Ideologie

Passend dazu konnte man in den sozialen Netzwerken allerhand Warnungen davor lesen, das Manifest des mutmaßlichen Täters zu verbreiten. Was normalerweise der Anfang einer Beschäftigung mit dem Antisemitismus eines Rechtsextremen wäre, wurde hier plötzlich zur Gefahr, denn jene rechtsextreme Ideologie genauer zu betrachten – so der viel gefährlichere Fehlschluss – sei letztlich gleichbedeutend mit ihrer Verbreitung.

Da verwundert es dann auch nicht mehr, wenn sich lieber an der eigenen Hilflosigkeit berauscht wurde: Nur wenige Stunden nach Halle twitterte der deutsche Außenminister Heiko Maas, dass er es leid sei, immer wieder entsetzt und erschüttert sein zu müssen, als seien seine im Internet ausgestreuten Gefühlsreaktionen der einzige ihn bedrückende Umstand. Vor lauter Befindlichkeitsduselei schien er glatt zu vergessen, dass sein betont freundliches Verhältnis zum antisemitischen Terrorregime in Teheran ebenso entsetzt und sein Engagement gegen Judenhass noch fadenscheiniger wirken lässt.

Es ist nicht nur diese gewissenlose Heuchelei, sondern auch die Gesamttendenz der an den Anschlag anschließenden Reaktionen weg vom Kern des Problems und hin zu selbstfixierten Debatten voll gefühligem Kitsch und Dauerfeuer gegen den politischen Kontrahenten, welche ratlos machen. Das Eintreten gegen jede Form des Antisemitismus bleibt so nur eine jämmerliche Phrase. (Nico Hoppe, 23.10.2019)