STANDARD: London hat in Sachen Brexit erneut einen Aufschub beantragt, obwohl Premier Boris Johnson das eigentlich gar nicht will. Wie lässt sich die Meinungsbildung der EU-27 dazu beschreiben?

Schusterschitz: Man merkt, dass sich die Stimmung langsam wandelt. Im April war noch völlig klar, dass man auf jeden Fall verschiebt. Jetzt fragt man sich vermehrt, warum konkret man das erneut tun soll. Wenn der einzige Grund die Tatsache ist, dass im britischen Parlament keine Mehrheiten zustande kommen, dann wird das sicher kritisch gesehen.

STANDARD: Aber das Offenhalten der irischen Grenze war bei den Verhandlungen stets tonangebend. Ein No-Deal-Brexit würde genau das zunichtemachen.

Schusterschitz: Kritisch sein heißt natürlich nicht, dass man es ablehnt. Wir wollen den No Deal vermeiden. Es wäre aber wichtig, dass das britische Parlament sagt, welchen Brexit es nun haben will. Oder man will gar keinen Brexit haben, dann soll man ihn zurücknehmen. Dass man das aber monatelang hinauszögert, ohne zu einer Entscheidung zu kommen, ist schon problematisch.

STANDARD: Ist der Deal mit Boris Johnson aus Sicht der EU-27 besser oder schlechter als jener mit Theresa May?

Schusterschitz: Er ist weder besser noch schlechter. Es ist ein Deal, der auf die Wünsche der britischen Regierung eingeht. Diese hat uns erklärt, dass es dann viel einfacher sein werde, das Abkommen durch das britische Parlament zu bringen. Deshalb haben wir Änderungen vorgenommen, und zwar so, dass sie für uns akzeptabel sind. Wir können damit leben. Besser als der May-Deal ist das neue Abkommen aber nicht.

STANDARD: Auch in der Umsetzung – Stichwort Zollkontrollen – scheint noch vieles unklar zu sein.

Schusterschitz: Die Idee ist, dass Nordirland im Zollgebiet des Vereinigten Königreichs bleibt, aber die Zollkontrollen für die EU auf der Irischen See stattfinden. Da gibt es verschiedene Varianten. Man kann gewisse Zollverfahren direkt in den beteiligten Firmen durchführen, man kann stichprobenartig in Häfen oder auf Schiffen kontrollieren. Aber das ist einer der Punkte, bei denen wir die technische Umsetzung noch genau diskutieren müssen.

STANDARD: Viele kritisieren, dass die britische Regierung nicht nur Regeln aus Brüssel ablehnt, sondern überhaupt weitreichende Deregulierung anstrebt – inklusive Lohn- und Umweltdumping. Teilen Sie diese Sorge?

Schusterschitz: Wenn die politische Erklärung über das zukünftige Verhältnis umgesetzt wird, dann ist ein solches "Singapur an der Themse" eigentlich nicht mehr wirklich möglich. Die Idee ist, dass Großbritannien sich zumindest an die geltenden Standards in Sachen Umwelt, Soziales, Steuern, staatliche Beihilfen und dergleichen hält.

STANDARD: Wie wurde eigentlich der berühmte Brief Johnsons mit dem Ansuchen um Aufschub zugestellt? Und spielt es eine Rolle, dass er nicht unterschrieben ist?

Schusterschitz: Frühere Briefe wurden vom britischen EU-Botschafter im Büro von Ratspräsident Donald Tusk übergeben. Es kann natürlich sein, dass dieses Schreiben (in Brüssel, Anm.) ausgedruckt und übergeben wurde. Dass die Unterschrift fehlt, ist natürlich etwas, das man interpretieren muss. Allerdings ist für uns die Willenserklärung der britischen Regierung erkennbar, eine Verschiebung beantragen zu wollen.

STANDARD: Und das zweite Schreiben, in dem Johnson diesen Wunsch relativiert?

Schusterschitz: Darin zeigt er uns seine Motivlage. Mit diesem zweiten Brief war aber keinerlei Antrag verbunden. (Gerald Schubert, 22.10.2019)