Tom Neuwirth hat sich nicht nur seiner Kleidung entledigt, auch den Divenpop seiner Conchita lässt er hinter sich – falsche Entscheidung!

Foto: Niklas Van Schwarzdorn

Als waschechte Diva – und das ist Tom Neuwirth, egal ob als Conchita oder als Wurst – hat man sich alle Jahre neu zu erfinden. Man ändert die Frisur, konvertiert zu einer aufregenderen Religion oder findet sein authentischstes Selbst – auch gern öfter. Angezeigt wird Letzteres zumeist damit, dass die Alben den Namen des Menschen hinter der Persona tragen. So sollen auch die unterm Stein Lebenden verstehen: Jetzt geht’s ans Eingemachte, jetzt sieht man ins Innerste, jetzt kommt die wirklich total ehrliche Wahrheit raus, schwöre!

T.O.M. heißt folgerichtig Neuwirths erstes Album, das er unter dem Namen Wurst veröffentlicht. Das ist einerseits die Abkürzung für Truth Over Magnitude, Wahrheit vor Größe, andererseits sein Vorname, mit Zierpunkten versehen. Neuwirth ist halt nicht für seine Subtilität bekannt. So eröffnet er seine zwölf Tracks starke musikalische Wursttheke auch gleich mit der Ansage Trash all the Glam: Conchita wird vorerst gekübelt, damit die Wurst wie ein Phönix aufsteigen kann.

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Neuwirth versucht sich damit am Kim-Kardashian-Erfolgsmodell: was einen berühmt gemacht hat, hinter sich zu lassen, aber gleichzeitig davon zu profitieren. Das ist jetzt an und für sich kein Vergehen. Der einzige dabei aber leider nicht von der Hand zu weisende Störfaktor ist, dass Conchita nicht für ihre großen musikalischen Leistungen bekannt ist, sondern als charmante und wortgewandte Brückenbauerin, die Österreich für kurze Zeit wie ein weltoffenes Land hat wirken lassen.

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Natürlich haben sich beide Alben Conchitas verkauft, stiegen auf Platz eins der heimischen Charts ein, aber sicher nicht in erster Linie wegen der Musik. Auch das braucht man Neuwirth nicht negativ anzukreiden. Er hat das Möglichste aus seinem Eurovision-Gewinn herausgeholt und musste homophobe Beleidigungen und andere Dummheiten dafür einstecken. Dafür gebührt ihm jedenfalls Respekt.

Dünnes Stimmchen, große Geste

Wäre Wurst eine Firmengründung im Bereich des Brückenbaus, der ja zum Tiefbau gehört, wäre alles gut. Es ist aber leider ein Projekt im Musikbereich und kommt ganz ohne Tiefe aus. Neuwirth ist kein Musiker im engeren Sinne. Weder schreibt noch komponiert er seine Songs selbst – für Truth Over Magnitude übernahm die als Lylit bekannte Sängerin und Komponistin Eva Klampfer diesen Job.

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Neuwirth ist in erster Linie ein an der Inszenierung und der großen Geste interessierter Performer und Interpret. Gerade das dermaßen ausgelutschte Genre Elektropop, in dessen Zeichen Truth Over Magnitude steht, hätte einen wirklich guten Interpreten gebraucht – doch ist Neuwirths Stimme bestenfalls durchschnittlich. Was bleibt da also noch?

Gute Songs ohne Flügel

Zugute muss man vor allem Klampfer halten, dass die Songs auf dem Album gar nicht übel sind, wenn auch die Instrumentierungen einen leichten Audio-Engineering-Schnellkurs-bei-Humboldt-Mief verbreiten. Gleich die zweite Nummer Satori wartet mit einem ganz großen Refrain auf, den auch eine Hitschleuder wie Sia hätte schreiben können. Nur singen hätte es halt eine wie sie müssen. T.O.M. fehlt es leider an Turbo, um den eigentlich brauchbaren Songs Flügel zu verleihen. So bleibt nur blutarme Konservenware übrig. Schade. (Amira Ben Saoud, 22.10.19)