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Auch Google-CEO Sundar Pichai ließ es sich nicht nehmen, mit dem Quantencomputer abgelichtet zu werden.
Foto: Reuters

Die Experten überschlagen sich mit großen Vergleichen und Superlativen: Was den Forschern des Tech-Giganten Google gelungen ist, sei von ähnlich epochaler Bedeutung wie die Flugversuche der Gebrüder Wright, hieß es am Mittwoch etwa in einem Kommentar im Fachblatt "Nature": Der Quantencomputer hebe ab und erlebe seinen Kitty-Hawk-Moment. (Kitty Hawk ist der Ort, an dem am 17. Dezember 1903 der erste kontrollierte und motorisierte Flug der Geschichte stattfand.)

In dem angesehenen britischen Wissenschaftsmagazin ist am Mittwoch mit beachtlicher medialer Begleitmusik auch die dazugehörige Studie offiziell erschienen. Und die Firma Google selbst lässt in einer Aussendung stolz verlauten, dass ihr Chip namens Sycamore eine Berechnung "in 200 Sekunden durchführen konnte, für die der schnellste Supercomputer der Welt 10.000 Jahre gebraucht hätte".

Mitarbeiter des Google-Forscherteams an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara: Charles Neill, Pedram Roushan, Anthony Megrant und Gruppenleiter John Martinis (von links).
Foto: Matt Perko/UCSB

Stehen wir damit tatsächlich vor einem Epochenwandel in der Computertechnik, der lange erwartet wurde, und vor einem neuen Computerzeitalter, in das wir nun – womöglich früher als gedacht – eingetreten sind? Oder geht es um ein PR-Manöver von Google, das sich im Wettlauf mit anderen Firmen wie IBM befindet?

"Schlecht gehütetes Geheimnis"

Die Kommunikation dieses Durchbruchs freilich war alles andere als ein Meisterstück und holperte ordentlich: Denn bereits Ende September war eine frühere Fassung der nun offiziell veröffentlichte Studie kurz auf einem Server der Nasa abrufbar. Die "Financial Times" bekam von dem "am schlechtesten gehütete Geheimnis der Quantentechnologie" Wind, und damit war mehr als nur das Gerücht in der Welt, dass der Tech-Gigant einen Meilenstein auf dem Weg zum Quantencomputer erreicht habe.

Am Montag schlug dann IBM zurück – ohne dass freilich die Originalstudie der Google-Forscher noch offiziell veröffentlicht war. IBM relativierte vorab die Leistung von Google und behauptete in einer eigenen Presseaussendung, dass die Konkurrenz getrickst habe. Ein richtig programmierter Supercomputer würde für die Rechenaufgabe nicht 10.000 Jahre, sondern gerade einmal zweieinhalb Tage benötigen. Und damit sei auch der behauptete Durchbruch sehr viel kleiner als gedacht. Wissenschaftlich abgesichert wurde die Behauptung durch ein Paper auf dem Preprint-Server Arxiv.

Hastige "Nature"-Publikation

Wohl auch als Reaktion darauf ist nun nur zwei Tage später, am Mittwoch, das Google-Paper in "Nature" etwas überhastet erschienen – ohne die sonst übliche Vorankündigung. Und auch die Pressekonferenz dazu sollte erst nach der Publikation stattfinden, nämlich Mittwochabend, was ebenfalls völlig unüblich ist. Das letzte Wort in der Diskussion über die Bedeutung des Durchbruchs – und im Streit zwischen Google und IBM– wird wohl noch lange nicht gesprochen sein.

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Doch alles noch einmal der Reihe nach. Physiker – darunter führend auch Forscher aus Österreich wie Peter Zoller oder Rainer Blatt von der Uni Innsbruck – arbeiten seit Jahren theoretisch und praktisch an der Entwicklung von Quantencomputern. Diese völlig neuartigen Rechenmaschinen würden – wenn sie denn erst einmal funktionieren – über gigantische Rechenleistungen verfügen und unsere heutigen Computer alt aussehen lassen.

Völlig andere Grundbausteine

Der fundamentale Unterschied liegt in den Grundprinzipien: Während unsere heutigen Rechner unter den Bedingungen und Gesetzen der klassischen Physik arbeiten – also mit binären Bits, die immer nur den Wert 0 oder 1 annehmen können –, arbeiten Quantencomputer mit sogenannten Qubits (Quantenbits). Solche Qubits können, für den Laien schwer vorstellbar, 0 und 1 gleichzeitig sein, und sie können Rechenoperationen nicht nacheinander, sondern simultan ausführen. Dadurch nimmt die Menge an Informationen, die Quantencomputer verarbeiten können, in exponentiellem Maß zu.

Sind Quantencomputer ausgereift, hätten sie dank ihrer ungeheuren Rechenleistung natürlich alle möglichen praktischen Anwendungen. Zwei Anwendungen sind dabei besonders interessant: Zum einen könnten solche Computer aufgrund ihrer revolutionären Möglichkeiten auch die besten Verschlüsselungen knacken. Und zum anderen sind sie besonders gut für Optimierungsprobleme geeignet, die beim maschinellen Lernen zu lösen sind. Das könnte der ohnehin boomenden KI-Forschung einen weiteren, entscheidenden Kick geben.

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Einer der Bestandteile des Google-Quantencomputers im Labor der Universität von Kalifornien in Santa Barbara.
Foto: Reuters

Nicht nur aus diesem Grund sind in den vergangenen Jahren große Tech-Multis mit viel Geld in die Forschung eingestiegen, die deshalb allem Anschein nach sehr viel schneller voranschreitet – bei entsprechend größerer Konkurrenz. Doch lange hielten sich die Fortschritte in Grenzen: Die Bedingungen, um stabile Quantenberechnungen zu erreichen, sind technisch nur mit großem Aufwand zu erreichen. So etwa braucht es extrem tiefe Temperaturen, um die nötigen Quantenzustände und Supraleitfähigkeit zu erreichen.

Die sogenannnte Quantenüberlegenheit

Als ein entscheidender Meilenstein in dem Wettlauf um den Quantencomputer gilt die sogenannte quantum supremacy die Quantenüberlegenheit. Dieser Begriff wurde vom US-Physiker John Preskill vor sieben Jahren geprägt und beschreibt den Moment, in dem Quantencomputer Probleme berechnen können, die auch die besten derzeitigen Supercomputer nicht schaffen.

Der Google-Studie zufolge hat ein von Forschern des Google Quantum Artificial Intelligence Lab konstruierter Chip mit 53 Qubits – das 54. ist offenbar kaputt gegangen – in etwa drei Minuten und zwanzig Sekunden eine sehr schwierige, speziell für dieses Experiment entworfene Aufgabe gelöst. Und die schnellsten Supercomputer der Welt würden für die gleiche Berechnung 10.000 Jahre brauchen. Behauptet zumindest Google.

Der Sycamore-Chip (hier im Bild) besteht aus 54 Qubits mit supraleitfähigen Schleifen. Beim Rechenexperiment funktionierten allerdings nur 53.
Foto: F. Arute et al. Nature 574, 505–510 (2019).

Haben die Google-Forscher damit also die Quantenüberlegenheit erreicht? Na ja, sagen einige etwas skeptische Physiker sinngemäß – wie auch John Preskill: Der Konzern habe das mathematische Problem, das der Chip Sycamore so schnell gelöst hat, gezielt ausgewählt, damit sich der "Quantencomputer" bewähren konnte. Es sei aber ein Problem von "keinem besonders großen praktischen Interesse". Dennoch sei der Fortschritt beeindruckend.

Einige Schönheitsfehler

Auch für den Experimentalphysiker Rainer Blatt (Universität Innsbruck und Institut für Quantenoptik und Quanteninformation der Akademie der Wissenschaften) ist die Arbeit "sicher ein Meilenstein" im Quantencomputing-Bereich. Aus seiner Sicht haften dem aber ein paar Schönheitsfehler an: "Die Statements drumherum und den Hype halte ich für mindestens fragwürdig." Man dürfe nicht vergessen, dass dahinter Firmen stehen, die auch Marketinginteressen verfolgen.

Blatt hält es so wie die IBM-Kollegen für übertrieben, dass ein herkömmlicher Supercomputer für diese Aufgabe rund 10.000 Jahre benötigen würde. Generell ist der österreichische Pionier des Quantencomputing nicht glücklich mit dem in diesem Fall prominent angeführten Begriff der "Quantenüberlegenheit". Das sei im Englischen semantisch nahe an der Wortwahl rassistischer Gruppen ("white supremacy") und suggeriere eine umfassende Überlegenheit des Ansatzes.

Keine praktischen Anwendungen

Der Experimentalphysiker spricht hingegen lieber von "Quantenvorteil" (quantum advantage). Auch weil dieser Begriff etwa medialen Übertreibungen ein wenig Vorschub leiste. Die Arbeit des Google-Teams zeige auf jeden Fall, dass man mit dem Ansatz "wirklich komplizierte Dinge machen kann". Die hier gezielt ausgesuchte Aufgabe habe aber keine wie auch immer geartete Anwendungen und sei daher nicht unbedingt "zielführend", wie Blatt ganz ähnlich wie Preskill argumentiert.

Mit dem neuen Computerzeitalter wird es also wohl noch etwas dauern – zumal für uns Normalverbraucher: Preskill schätzt, dass es die ersten Allzweck-Quantencomputer erst in 30 Jahren geben wird. (tasch, APA, 23.10.2019)