Bei der Hannover-Messe 2018 testete Bodo Ramelow (re.) ein Exoskelett.

Foto: Imago / Anja Cord

STANDARD: Bei den Wahlen in Brandenburg und Sachsen am 1. September hat die Linke verloren. Warum sollte es am Sonntag bei Ihnen in Thüringen besser laufen?

Ramelow: Die Menschen dort trieb ganz wesentlich die Sorge, dass die AfD stärkste Kraft wird. Das führte zu Polarisierung. Auch einige unserer linken Stammwähler haben dann lieber taktisch die Partei des Ministerpräsidenten gewählt. In Thüringen ist die Frage eine ganz andere, nämlich: Schafft es der Ramelow noch einmal?

STANDARD: Und? Schafft er es? Oder läuft die AfD der Linken den Rang als Kümmererpartei ab?

Ramelow: Die AfD kümmert sich um nichts, sie bietet nichts anderes als Empörung. Es stimmt, dass wir früher das Segment des Protests abgedeckt haben, aber die Linken sind nach wie vor die Kümmerer. Bei der Zumessung der Ostkompetenz verzeichnen wir die höchsten Werte. Wir sind auf dem Weg zur Vereinigung ein gutes Stück vorangekommen. Die letzten Meter sind immer die schwierigsten. Deshalb müssen wir den Menschen Mut machen für den Aufholprozess.

STANDARD: Sie sehen den Osten nicht abgehängt?

Ramelow: Klar, der Lohn ist hier immer noch niedriger, aber wir holen auf. Zuweilen lohnt es, den Blick auf Gesamteuropa zu richten. Wenn man die wirtschaftlichen Rahmendaten aller 28 EU-Staaten vergleicht, läge das kleine Thüringen als Land auf Platz 19. Das ist mehr als beachtlich.

STANDARD: Aber die Menschen vergleichen ihr Einkommen nicht mit dem der Rumänen, sondern mit dem der Westdeutschen.

Ramelow: Da kann ich als alter Gewerkschafter nicht aus meiner Haut und sage: Kollektivverträge fallen nicht vom Himmel, man muss in und mit der Gewerkschaft dafür kämpfen. Die Thüringer CDU hat 20 Jahre lang in alle Welt die Botschaft gesendet: "Kommen Sie nach Thüringen, hier zahlen Sie niedrige Löhne." Der Altersarmut wurde dadurch Tür und Tor geöffnet. Wir sagen: Gute Arbeit braucht gute Löhne.

STANDARD: Verstehen Sie die Ungeduld der Ostdeutschen?

Ramelow: Natürlich. Zugespitzt formuliert bekommen sie häufig als westliches Urteil vermittelt: Ihr seid undankbar, unproduktiv, das Arbeiten muss man euch erst beibringen. Viele Menschen haben das Gefühl, dass man nicht mit ihnen reden will, sondern sie bloß runtermacht.

STANDARD: Hilft die Ostpolitik der Bundesregierung?

Ramelow: Nein, und das beurteile ich wie alle Ost-Ministerpräsidenten. Ein Beispiel: In Deutschland kommen auf 1000 Einwohner 2,3 Bundesbedienstete oder Forschungseinrichtungen, die der Bund bezahlt. In Thüringen sind es 0,7 Prozent. Jetzt wurde das neue Batterieforschungszentrum nach Münster (Nordrhein-Westfalen) vergeben, die Bundesforschungsministerin hat nicht mal nachgefragt in Thüringen, obwohl wir zwei Leistungszentren der Batterieforschung haben. Da zeigt sich eine Ignoranz, die tief verletzend ist.

STANDARD: Sie selbst stammen aus dem Westen. Fühlen Sie sich ein bisschen ostdeutsch?

Ramelow: Nein. Ich bin erst kurz nach der Wende nach Erfurt gekommen und habe auch nie so getan, als sei ich ein Ostdeutscher. Es wäre anmaßend gewesen. Ich musste nie erdulden, was den Menschen hier durch den Staatsapparat angetan wurde. Aber als Thüringer fühle ich mich schon lange.

STANDARD: Obwohl es vor fünf Jahren, als Sie erster Ministerpräsident der Linken wurden, noch massive Proteste gab?

Ramelow: Schuldenkönige haben sie uns genannt. Inzwischen haben wir von den 16 Milliarden Euro Schulden, die uns die CDU hinterließ, 1,1 Milliarden abgebaut. Heute sind 62 Prozent der Bürgerinnen und Bürger mit der Arbeit der rot-rot-grünen Landesregierung zufrieden.

STANDARD: Wäre Rot-Rot-Grün auch eine Option für den Bund?

Ramelow: Ich halte das Modell für absolut übertragbar, wenn sich die Beteiligten nicht gegenseitig an die Wand spielen. Aber Linke, SPD und Grüne müssten sich dann auch mal zusammensetzen und diskutieren, was genau uns etwa in der Nato-Frage oder Außen- und Sicherheitspolitik wirklich trennt.

STANDARD: Könnten Sie mit Ihrer Erfahrung eine tragende Rolle in einem solchen Bündnis spielen?

Ramelow: Ich war im Bund Fusionsbeauftragter zwischen der WASG (Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit) und der PDS zur Linken und helfe auch jetzt gerne weiterhin über den Bundesrat. Aber mein Platz ist in Thüringen, da kenne ich fast jede Milchkanne. Das hat nicht zuletzt etwas mit Lebensqualität zu tun. (Birgit Baumann, 24.10.2019)