Das hat Großbritannien nicht verdient. Immer tiefer steckt der Karren im Dreck, immer gespaltener wird die Gesellschaft, die Negativspirale dreht sich immer schneller. Auch wenn irgendwann, mit Betonung auf "irgendwann", ein Ausstieg vollzogen ist, es wird ein Großbritannien zurückbleiben, das nicht mehr dasselbe ist. Das kann man auch heute schon getrost konstatieren.

Schuld daran sind eine Reihe von Protagonisten. Beginnend mit David Cameron, der sein politisches Schicksal mit dem Referendum verknüpfte und damit aus machtpolitischem Kalkül einen viel zu hohen Einsatz ins Spiel brachte, nämlich die Zukunft seines Landes. Damit, dass die Briten ihn und die EU abwählen würden, hat er nicht gerechnet.

Die Sache ausbaden sollte dann die spröde Einzelkämpferin Theresa May. Unfähig zum Kompromiss, legte sie den Grundstein für das berechtigte Misstrauen des britischen Parlaments gegen die britische Regierung. Ohne Not rief sie Neuwahlen aus, verlor ihre Mehrheit und jede einzelne Abstimmung über den Deal. Damit hatte sie nicht gerechnet.

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Boris Johnson muss sein zentrales Wahlversprechen brechen, die EU am 31. Oktober zu verlassen.
Foto: AP Photo/Frank Augstein

Dann kam der unsägliche Boris Johnson. Auf sein Konto geht viel mehr Mist als der, den er in den letzten Wochen als Premier gebaut hat. Johnson war einer der Köpfe der Leave-Kampagne. Damals operierte er nachweislich mit Lügen, nutzte den Brexit auch später in seinem Kampf gegen seine Mentorin May als Mittel zum Zweck, britischer Premier zu werden. Der neue Zweck: britischer Premier zu bleiben.

Spaltung im Parlament

Dienstagabend sah es dann tatsächlich danach aus, als hätte Johnson das Spiel gewonnen. Das Parlament billigte sein Brexit-Gesetz. Das Tempo, mit dem er die Sache durch den Gesetzgebungsprozess peitschen wollte, haben die Abgeordneten allerdings zu Recht abgelehnt. Ein Labour-Abgeordneter brachte es auf den Punkt: Die Zeit, die die Abgeordneten für die Debatte des am Montag veröffentlichten Brexit-Gesetzes bekommen hätten, würde nicht einmal ausreichen, um ein Sofa auszusuchen.

Damit muss Johnson sein zentrales Wahlversprechen brechen, die EU am 31. Oktober zu verlassen. Mit diesem Szenario hat er vermutlich gerechnet.

Aber was jetzt? Er wird wohl demnächst in Neuwahlen ziehen mit dem aus seiner Sicht nur zweitbesten Narrativ: Heroischer Premier macht Deal mit Europäischer Union und kämpft gegen renitentes Parlament. Erinnert ein bisschen an Johnson-Freund Donald Trump: Das Volk gegen die demokratischen Institutionen auszuspielen funktioniert auch jenseits des Teichs ganz gut.

Das Volk kippt allerdings laut Umfragen aktuell gerade wieder in Richtung Verbleib. Werden Neuwahlen sich als Déjà-vu erweisen, den Premier erst recht schwächen, während die Spaltung der Bevölkerung sich wieder in der Spaltung im Parlament widerspiegelt? Das ist nicht unwahrscheinlich. Wer den Brexit will und der Pokerpartie Johnsons überdrüssig ist, wählt vielleicht lieber die Brexit-Partei. Wer den Verbleib will, aber das unfähige Herumlavieren von Labour-Chef Jeremy Corbyn nicht aushält, gibt seine Stimme vermutlich eher den Liberaldemokraten, die immer schon offen ein zweites Referendum forderten. Mehrheiten weiterhin gesucht.

Selbst wenn Johnsons Rechnung doch aufgeht und er als Sieger aus Wahlen hervorgeht: Die Briten haben derzeit kein Glück mit ihren Führungsfiguren. Das haben sie nicht verdient.(Manuela Honsig-Erlenburg, 23.10.2019)