Die Schriftstellerin Sabine Scholl: "Viel später erst, als ich selbst Mutter werden sollte, begriff ich, warum man vermied, das Blut zu sehen. Es war die Erinnerung an den Tod."

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Das U ist mein Tabu. Wörter mit U. Warum? In meinem Namen kommt kein U vor. Obwohl es eine Zeit gab, in der ich auch kein I vertrug. Aber das U bleibt fremd. Es sind weniger die Wörter als die Laute, vor denen ich mich scheue. Es ist weniger das Schreiben als das Sprechen, das mir Mühe macht.

Das Wort Jude lernte ich spät. Dort, wo ich aufgewachsen bin, gab es weder den Ausdruck noch die Menschen, zu denen diese Bezeichnung passte. Sehr spät, im Geschichtsunterricht, nahm es der Lehrer in den Mund. Wir konnten es kaum aussprechen. Das blieb so. Sehr lange. Sehr lange sprach keiner dieses Wort aus in Österreich, und wenn, dann war es meistens, um die Menschen, zu denen diese Bezeichnung gepasst hätte, zu beleidigen und sich selbst ein Recht darauf zuzugestehen.

Das U war ein Behälter für Zwischentöne, die Ungutes bedeuteten. Die man besser drunten ließ und gar nicht anfing zu erwähnen. Man verhedderte sich, konnte das nie richtig hinkriegen. Oder es geschah aus schlechtem Gewissen, Scham oder Schuld. Das Wort Jude war nie frei, konnte kein Wort sein wie Haus oder Himmel oder Milch. Mit den Menschen, zu denen diese Bezeichnung passte, konnte ich mich erst beschäftigen, als ich das englische Wort sprechen lernte.

In Chicago oder New York traf ich Menschen, die "Jewish" waren. Für manche von ihnen wiederum war das Wort "German" ein Tabu. Eine Bezeichnung, die auf meine Herkunft passte. Manche wollten nicht mit mir reden. Warum? Weil sie noch von dem Wort Jude wussten und wie man es in Germany gebrauchte. Das Wort "Jewish" konnte ich in Chicago oder New York aber dann bald ganz gut verwenden. Die Schwierigkeit mit dem U auf Deutsch aber blieb.

Blut verband sich mit Boden

Sehr eng verwandt mit dem Pro blem des Wortes Jude war das Pro blem des Wortes Blut. Obwohl das noch tiefer reichte. Ja, weil das Wort Blut so wichtig geworden war, wurde die abfällige Bewertung des Wortes Jude erfunden. Daher konnte mir nichts wirklich gut sein, das mit Blut befasst war.

Blut war nur ein anderes Wort für Heimat. Und die warf alles raus, was ihr nicht passte. Blut verband sich mit Boden und anderen grausamen Vorgangsweisen. Blut nahm sich das Recht, zu den einen Ja zu sagen und zu den anderen Nein. Also sprach ich auch dieses Wort nicht gerne aus. Es war unan genehm.

Sogar meine Mutter vermied es, Blut zu sagen, als sie mir erklärte, was ich zu erwarten hätte, wenn ich erwachsen bin. Daher konnte ich das Blut zwischen meinen Beinen dann auch nicht benennen, als es zu rinnen begann.

Nicht nur, dass meine Mutter es vermied, Blut zu sagen, man sollte es auch nie sehen, hat sie mich gelehrt. Das war das Allerschlimmste. Das monatliche Blut durch Kleidung dringen zu sehen. Man musste all diese blutigen Vorgänge verstecken. Auch sonst, wenn man sich verletzte, musste das Blut sofort verdeckt sein.

Also war es ein Tabu, dieses U. Also musste es immer unangenehm sein, Blut zu sehen. Deshalb sprach ich auch nicht davon, als ich beobachtete, wie es aus dem Handgelenk des alten Mannes tropfte und eine Lache am Holzboden bildete. Deshalb sprach ich auch bald nicht mehr mit meiner Mutter, weil sie es war, die mich in das Tabu des Blutes eingeführt hatte, das eigentlich ein Tabu des U war. Denn auch sie trug das U in ihrem Namen.

Die Erinnerung an den Tod

Viel später erst, als ich selbst Mutter werden sollte, begriff ich, warum man vermied, das Blut zu sehen. Es war die Erinnerung an den Tod. Es war der Ort, an dem das Leben und der Tod zusammenkamen, und unser Körper ist nur ein Behälter, den es aufrechterhält oder verlässt. Sonst nichts.

Als ich mit der Geburt meines Sohnes beschäftigt war, vergaßen die Hebammen einen Teil des Mutterkuchens in meinem Bauch. Das doppelte U im Wort Mutterkuchen weist bereits auf die Gefahr. Dieses vervielfachte U verursachte unglaublichen Schmerz. Den man mir nicht glaubte, denn als Mutter ist man dazu angehalten, Schmerzen zu leiden und nicht davon zu reden.

Denn das Glück, eine Mutter zu sein, wiegt die Schmerzen auf. Meinen die Vertreter der Natur. Ich aber schrie. Und dann kam das Blut. In riesigen Schwallen brach es hervor, heiße Ströme spritzten zwischen meinen Beinen, und die Hebammen fingen es in Metallbecken auf. Ich spürte, wie mich das Leben verließ mit dem Blut.

Oft habe ich mich auch gefragt, ob es einen Unterschied gibt zwischen einem Kind, das aufwächst und Mutter sagt, und einem, das die Mutter Mama nennt.

Hat es einen Einfluss auf das spätere Leben, ob man in frühester Kindheit das U oder das A bevorzugt? Ich las lange Abhandlungen über die Bedeutung des Lautes A im Erlernen der Sprache. Dass der erste Buchstabe des Alphabets der erste Laut ist, den ein Kind erwirbt, in allen Sprachen. Wenn das stimmt, habe ich ein Problem. Denn ich bin mit dem U-Wort aufgewachsen, nannte meiner Mutter verkleinert, also Mutti. Vielleicht rührt auch daher meine Abneigung gegen das U (und zeitweise das I)?

Verachtung

Warum aber ist auch im U des Wortes Tschusch so viel Verachtung enthalten? Auch dieser Ausdruck ist mir seit meiner Kindheit vertraut. Er wurde als Bezeichnung verwendet für jene ersten Menschen, die ich kennenlernte, die meine Sprache nur in Bruchstücken kannten.

Dafür aber waren sie sehr stark und verrichteten Arbeit, die ich nicht machen konnte, wie Zementsäcke schleppen, tiefe Löcher in die Erde graben oder Karren voller Schotter über schmale Bretter schieben, ohne dass sie kippten. Ein paar Mal habe ich das probiert, aber nie geschafft.

Diese Männer wurden Tschuschn genannt, und sowohl das U als auch das doppelte Sch drückten etwas aus, was nicht dazugehören konnte, vielleicht weil sie von woanders herkamen und untereinander anders sprachen. Vielleicht war das doppelte Sch eine Imitation ihrer Sprache, die wir nicht verstanden?

In Wien habe ich das Wort später noch oft gehört. Inzwischen war es mir klar. Ich hatte gelernt, dass es bedeutete, wir sind wir und die sind die. Es gab eine Grenze. Noch dazu, weil in Wien die Grenze nahe war. Und alles jenseits der Grenze war weniger wert als wir. Das lag im U von Tschusch in Wien.

Den Begriff Heimat vermeiden

Natürlich gibt es auch andere Laute, die tabu sind. Zum Beispiel einige Diphthonge des Dialekts der Gegend, in der ich aufgewachsen bin. Ich vermeide den Begriff Heimat. In gewissem Sinne ist auch dieses Wort für mich tabu. Weil es eine Heimat gar nicht gibt. Die Diphthonge wiesen mich schon in der Grundschule als Bewohner einer bestimmten Gegend aus, die von Landwirtschaft geprägt ist, von Bauern.

Dazu sollte man in der Schule aber nicht gehören. Der Dialekt war dort tabu. Da mein Großvater in Mundart dichtete, kannte ich einige Verse auswendig, die zwar lustig waren, aber nur im Dialekt. Als ich eines Tages von der Lehrerin gebeten wurde, ein Gedicht aufzusagen, begann ich eines vor der Klasse zu rezitieren. Während ich sprach, fiel mir auf, dass Dialekt verboten war, und ich versuchte die Worte ins Hochdeutsche zu übersetzen, was natürlich misslang. Die Pointe ging verloren.

Nach vollzogener Anpassung meinte ich jahrelang, jene Diphthonge vergessen zu haben, bis ich in Portugal Portugiesisch lernen sollte. Das Portugiesische ist voll von Diphthongen und Nasalen, die denen meiner Kindheit ähnlich sind. Aber ich traute mich nicht, sie anzuwenden, weil das Tabu über ihnen lag.

Lange sprach ich die portugiesischen Wörter falsch aus, weil meine Zunge sich weigerte, die Laute jener Sprache zu formen, mit der ich aufgewachsen war. Sie waren tabu, weil sie herabgesetzt worden waren.

Schließlich musste ich mich überwinden und zurückgehen in Kindheit und Herkunft, um jene Laute zu bilden, die nun in der Fremde nötig waren. Wo sich zwei Orte in zwei Sprachen verbanden, wo "Bej" und "bem" gleich wurden, "Bienen" und "gut". (Sabine Scholl, Vorabdruck, 25.10.2019)