Im Gastkommentar geben Ulrike Famira-Mühlberger und Christoph Badelt vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung einen Überblick, welche Fragen dringend beantwortet und auf die politische Agenda gesetzt werden sollten.

Welches Pflegesystem ist sozial gerecht? Roboter "Pepper" wird die Frage nicht beantworten, hier sind Politik und Gesellschaft gefordert.
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Pflege wird in Österreich zum überwiegenden Teil von Angehörigen geleistet. Sowohl der mobile als auch der stationäre Bereich sind relativ schwach entwickelt. Durch gesellschaftliche Entwicklungen kommt die Angehörigenpflege jedoch stark unter Druck. Frauen haben schon heute eine stärkere Anbindung an den Arbeitsmarkt, und der Trend wird sich aufgrund der Bildungsexpansion verstärken. Das ist positiv für Familien, Wirtschaft und Frauen. Pflege darf aber nicht zu einer problematischen Belastung von Frauen führen – dies ist bei einer Pflegereform zu beachten.

Pflegebedürftige haben immer weniger Kinder, die für sie sorgen können. Zudem ist die räumliche Mobilität jüngerer Generationen größer geworden, und mehrere Generationen umfassende Haushalte sind heute seltener. Die Anzahl der Einpersonenhaushalte unter älteren Menschen steigt rapid an. Viele Menschen werden erst spät Eltern. In Zukunft werden Kinder daher noch voll im Berufsleben stehen, wenn ihre Eltern pflegebedürftig sind, auch wegen des höheren effektiven Pensionseintrittsalters. Diese gesellschaftlichen Veränderungen werden massive Auswirkungen auf das Pflegepotenzial innerhalb von Familien haben. Eine Neuordnung des Pflegesystems muss diese Entwicklungen berücksichtigen.

Rechtsanspruch auf Pflege

Die zentrale Frage in der Diskussion um eine Neuordnung betrifft ein fundamentales Werturteil: Ist Pflegebedürftigkeit in einem modernen Sozialstaat ein privates Problem oder ein soziales Risiko, bei dem die Verantwortung bei der Gemeinschaft liegt, die dafür sorgt, dass jeder Mensch unabhängig von seiner finanziellen Lage quantitativ und qualitativ adäquate Leistungen erhält. Dies schließt weder familiäre Pflege noch Selbstbehalte a priori aus, sofern sozial zumutbar. Was sozial zumutbar ist, muss ebenso geklärt werden: Soll ein Pflegesystem umverteilend wirken, oder soll es verteilungsneutral sein? Was ist hier sozial gerecht? Welche Leistungen bekommen Pflegebedürftige, die nicht auf private Ressourcen zurückgreifen können? Diese Fragen müssen offen diskutiert und klar geregelt werden.

Wird eine Verantwortung der Gemeinschaft für Pflege ernst genommen, dann muss es – anders als jetzt – einen Rechtsanspruch auf Pflegeleistungen geben. Dies erfordert eine klare Definition von Qualitätskriterien und klare Bestimmungen der Art und des Umfangs der zu gewährenden Leistungen, die einheitlich für ganz Österreich festgehalten werden.

Demografischer Wandel

Laut Wifo-Berechnungen werden die Kosten für die Pflege in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stark steigen. Werden nicht nur die demografische, sondern auch die gesundheitliche Entwicklung, der Rückgang der informellen Pflege und zu erwartende Kostensteigerungen im Pflegesektor berücksichtigt, zeigen Projektionen eine Steigerung der öffentlichen Ausgaben für Pflegedienstleistungen von 80 Prozent bis 2030 (gegenüber 2016). Wesentlich höhere Steigerungsraten sind in den Jahren nach 2035 zu erwarten, wenn die Babyboomer-Generation ins pflegebedürftige Alter kommt. Bis 2050 geht das Wifo von einer mehr als 300-prozentigen Steigerung aus. Dabei entspricht die durchschnittliche jährliche Steigerungsrate ungefähr jener, die auch schon in den letzten Jahren zu beobachten war. Auf diese Entwicklungen müssen wir uns bereits heute vorbereiten.

Es ist klar, dass eine alternde Gesellschaft eine Verschiebung der Struktur der öffentlichen Ausgaben nach sich zieht. Bei einer Reform der Abgaben und Steuern muss jedenfalls berücksichtigt werden, wie die notwendigen finanziellen Mittel für die Pflege sichergestellt werden können. Ein wesentlicher Faktor der Kostensteigerungen ist aber nicht nur der demografische Wandel, sondern auch die Notwendigkeit, die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals signifikant zu verbessern, um mehr Menschen dauerhaft für die entsprechenden Berufe gewinnen zu können.

Unwürdiges Schauspiel

Schon jetzt haben Pflegedienstleister enorme Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen. Bis 2030 werden zusätzliche 24.000 Personen im mobilen und stationären Bereich benötigt, bis 2050 sogar fast 80.000. Es werden hohe Anstrengungen nötig sein, um diesen Personalbedarf decken zu können.

Würdig wäre es, diese Herausforderungen und Konflikte offen zu diskutieren und einen gesellschaftlichen Kompromiss zu erarbeiten. Unwürdig ist ein populistisches Schauspiel, das die Karten nicht offen auf den Tisch legt und so tut, als brauchte es nur ein anderes Finanzierungssystem, und das Problem wäre gelöst. Das demografische Grundproblem aber bleibt in jedwedem Finanzierungssystem bestehen.

Kriterien benennen

Aus dieser Sicht ist die Debatte Versicherungssystem versus Steuerfinanzierung nahezu irrelevant. Es kommt vielmehr darauf an, die Kriterien zu nennen, die für ein modernes Pflegesystem gelten sollen: Rechtsanspruch, Art und Umfang von Leistungen mit bestimmter Qualität, umverteilend oder verteilungsneutral, Entlohnung des Pflegepersonals, et cetera. Darauf sollte sich die politische Diskussion konzentrieren. Sind diese Fragen einmal nachhaltig beantwortet, dann wird der Streit zwischen Versicherung und Steuerfinanzierung zu einer nachgeordneten praktischen Frage. (Ulrike Famira-Mühlberger, Christoph Badelt, 24.10.2019)