Premier Boris Johnson im Mai 2018 bei den Londoner Kommunalwahlen. Er und sein Widersacher Jeremy Corbyn betonen öffentlich, bald wählen lassen zu wollen – intern gibt es daran Zweifel.

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Erst auf den Weg gebracht, dann verzögert – nach den widersprüchlichen Abstimmungen im Unterhaus belauerten einander die britischen Parteien am Mittwoch, ohne konkrete Auswege zu benennen. Im Unterhaus wies Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn auf die Schwächen des "furchtbaren" Austrittsvertrages hin. Der konservative Premierminister Boris Johnson bezichtigte seinen Gegner, dieser sei ohnehin nur an einer zweiten Volksabstimmung interessiert. Hinter verschlossenen Türen verhandelten die beiden Spitzenpolitiker über einen neuen Zeitplan für den EU-Austritt und den möglichen Termin für die geplante Neuwahl.

Das Parlament hatte am Dienstagabend mit 329 zu 299 Stimmen erstmals seine Zustimmung zum Verhandlungspaket aus Austrittsvertrag und politischer Erklärung signalisiert. Dabei gaben 19 Labour-Abgeordnete den Ausschlag, deren Wahlkreise 2016 mit mehr oder weniger klarer Mehrheit für den Brexit votiert hatten. Sie handelten damit zwar gegen die offizielle Labour-Fraktionslinie, in der Arbeiterpartei glauben aber viele, dem langjährigen Europaskeptiker Corbyn sei der Ungehorsam ganz recht gewesen. Er wünsche sich den EU-Austritt, wolle aber nicht dafür verantwortlich sein, heißt es aus Kreisen um den EU-freundlichen Brexit-Sprecher Keir Starmer.

Niederlage nach Erfolg

Bei der kurz darauf folgenden Abstimmung wandte sich das Unterhaus dann wieder gegen die Vorstellungen der Regierung. Diese hatte das Austrittsgesetz binnen dreier Tage verabschieden und damit den geplanten Termin zum Monatsende einhalten wollen. Das ging einer Mehrheit zu schnell, zu der auch unabhängige Konservative und viele der vorherigen Labour-Rebellen gehörten. Mit 322 zu 308 Stimmen lehnten sie den Zeitplan ab. "Das Hohe Haus hat das Ziel, aber nicht die Mittel dazu bewilligt", fasste Johnson die Entwicklung zusammen.

Der Premierminister hielt auch am Mittwoch an der Fiktion fest, die mittlerweile von der EU erbetene Verlängerung der Austrittsperiode habe mit ihm nichts zu tun. Dabei musste der Regierungschef am Samstag einem Gesetz vom Vormonat folgen und bei Ratspräsident Donald Tusk um mehr Zeit bis Ende Jänner bitten.

Dem Brüsseler Vernehmen nach dürften die 27 EU-Partner dieser Bitte entsprechen, mit der bereits zuvor benutzten Formulierung, der Austritt könne selbstverständlich auch früher erfolgen. Der demnächst aus seiner Funktion ausscheidende anglophile Pole versuchte sich am britischen Konzept des Understatements: "Nach den jüngsten Ereignissen im Vereinigten Königreich ist die Situation recht komplex."

Wahlkampf auf Brexit reduzieren

Das gilt auch für die Kalkulationen der politischen Parteien bezüglich der unmittelbaren Zukunft. Die Liberaldemokraten, die Grünen sowie die schottischen und walisischen Nationalparteien wünschen sich eine vorgezogene Neuwahl vor dem Austritt. Dies gäbe ihnen die Möglichkeit, den Wahlkampf auf die Brexit-Frage zu reduzieren.

Hingegen haben die Tories und Labour ein Interesse daran, zunächst eine Klärung über den Austritt herbeizuführen. Denn den Konservativen droht Gefahr durch die Brexit Party, die auf einen kompromisslosen Bruch mit dem politischen Europa drängt. In jüngsten Umfragen liegen die Jünger des einstigen Ukip-Chefs Nigel Farage immerhin bei zehn bis 13 Prozent, was den Tories in einzelnen Wahlkreisen empfindlich schaden könnte.

Labour hingegen weiß nach wie vor nicht genau, was es will – abgesehen davon, dass eine Winterwahl sicherlich die Beteiligung dämpfen würde, was traditionell bei der Arbeiterpartei stärker zu Buche schlägt als bei den unverdrosseneren Anhängern der Konservativen. Ohnehin schaudert es sämtliche erfahrene Politikstrategen bei der Vorstellung, im November und Dezember auf Stimmenfang zu gehen. Denn Wahlkampf findet auf der Insel vor allem an den Haus- und Wohnungstüren statt, weshalb das Unterhaus seit 40 Jahren stets im Frühjahr gewählt wurde, wenn die Abende lang und die Temperaturen mild sind. Jetzt stehen dem Fußvolk der Parteien und dem Wahlvolk unangenehme Begegnungen an kalten, dunklen Herbstabenden bevor.

Schlechte Umfragewerte

Zudem verheißen die Umfragen der Oppositionspartei wenig Gutes: Bis zu 15 Prozentpunkte beträgt der Abstand auf Johnsons Partei. Im direkten Vergleich der beiden Anwärter auf die Downing Street liegt der Amtsinhaber (55) in allen Altersgruppen sowie in sämtlichen Regionen des Landes vor seinem 70-jährigen Herausforderer. Dass Corbyn dennoch der vorgezogenen Neuwahl – die Legislaturperiode dauert offiziell bis Mitte 2022 – zustimmen will, sobald die Gefahr eines chaotischen Brexits ("No Deal") gebannt ist, halten viele Parteifeinde für den völlig unangebrachten Mut der Verzweiflung. (Sebastian Borger aus London, 23.10.2019)