Das Prinzip des Likens im Netz baut auf eine Geschwindigkeit auf, die nicht mehr mit der einer Lesepraxis einhergeht, Literatur braucht eine gewisse Langsamkeit, um anzukommen.

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Der Lust am Text, jenem schönen Buch von Roland Barthes, ist ein merkwürdiges Zitat des Philosophen Thomas Hobbes vorangestellt: "Die einzige Passion meines Lebens war die Angst."

Merkwürdig, weil es in der Folge gar nicht um die Angst als Passion geht, sondern eher im Gegenteil um die Überwindung jeder Angst, um die Kunst, sich nicht erklären, sich niemals entschuldigen zu müssen, und dennoch taucht derzeit genau dieser Zusammenhang der Vermeidung der Selbsterklärung, des Nichtentschuldigens und der Angst als Passion an allen möglichen Orten auf, wo man ihn bis vor kurzem nicht erwartet hätte.

So zum Beispiel auf diversen Dringlichkeitssitzungen in Redaktionen und Radiosendern, wie ich sie vor ein paar Wochen erlebt habe. Den Begriff Dringlichkeitssitzung, das muss ich zugeben, habe ich der Situation verpasst.

Im Grunde handelte es sich um ein Gesprächspodium in einem Sender, das einberufen wurde aufgrund des großen internen Drucks von Mitarbeitenden, frei und fest, die Angst um ihre Arbeit hatten, begleitet von besorgten außenstehenden Institutionen, die die Erosion aus anderen Zusammenhängen kennen.

Dort hörte ich angesichts von massiven Kürzungen den schönen Satz: "Um das lange Wort zu retten, müssen wir es kürzen." Es ging um Tagesinnenflächen, um Prime Time und Drive Time eines Begleitmediums, das bald niemanden mehr interessieren wird, weil es von Streaming-Diensten abgelöst wird. Es ging um Arbeitsplätze, Sparpläne und darum, am besten nichts zu senden, "was dem Hörer nichts nutzt".

Legitimationsdiskurse

Hier, dachte ich mir, hält sich also das lange Wort versteckt, bevor es in der vom Sender aufgetragenen Kürzung wegverwaltet wird. Dass es umgeben ist von einem Wall von Legitimationsdiskursen und Relevanzforderungen, war schnell zu ahnen. Ihnen kommt das bekannt vor?

Ich wunderte mich auch, wie schnell man selbst im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mitten drin stecken kann in den Echokammern des Netzes, den narzisstischen Fallstricken einer neuen Öffentlichkeit, die keine Öffentlichkeit im klassischen Sinn mehr ist, und ich fragte mich nicht nur, was das noch mit dem demokratischen Bildungsauftrag zu tun hat und wie das mit der Literatur und dem Theater überhaupt noch gehen soll, wenn die Vermittlung derartig beschnitten wird.

Relevanz hat in öffentlich-rechtlichen Institutionen immer etwas Fiktives: Zunächst wird die Quote beschworen, mit viel Mystik und Missbrauch der statistischen Mittel werden Zahlen genau in die Richtungen gestrickt, die man braucht, und meist landet man in der schlichten Bestätigung aller Vorurteile, am ehesten der Besserverdienenden gegenüber den Geringerverdienenden, heute versehen mit dem Zusatz: "In Zeiten des Rechtspopulismus können wir es uns nicht mehr leisten, eine Mahler-Symphonie in Gänze zu spielen."

Genau dieser Satz, geäußert in einem vermeintlich harmlosen Setting einer Rundfunkratssitzung, Ausdruck für das allgemeine Andienen an den Geschmack der vermeintlichen Mehrheit, machte mich nervös.

Normalisierungsarbeit der Medien

In Zeiten destruktiver Spaltungen und Hate Speech, in Zeiten von Anschlägen auf Synagogen und Ermordung von Menschen aus rechtsextremer Gesinnung, in Zeiten der Radikalisierung von oben wie von unten ist dieses Andienen genau der Ort, an dem unser Wir zu entstehen scheint.

Und tatsächlich können wir hier ansetzen und das Übernehmen von Argumentationsmustern reflektieren, die verstörte Ängstlichkeit der Chef-Redaktionen, die Rückzugsgefechte, der von ihnen Abhängigen beobachten, die vielen entgegenkommenden Fragen, wo Entgegenkommen die eigene Position negiert, eben diese ganze Normalisierungsarbeit der Medien, die heute niemals Minderheitenprogramm sein dürfen.

Seien wir doch mal ehrlich, so formulierte es ein Musikredakteur am Ende der Dringlichkeitssitzung: "Wir alle hier wollen lieber mehr Zuhörer als weniger." Öffentlichen Anrufungen von Ehrlichkeit ist grundsätzlich zu misstrauen, aber in dem Moment nahm ich sie ernst und habe begonnen, mich zu fragen, ob ich wirklich lieber mehr Zuhörer wollte als weniger.

Ich kam zu keinem Ergebnis. Welche Entscheidungen würde ich treffen, wenn ich stets diesem Motto folgen würde? Würde ich damit nicht nur meine eigene Position negieren, sondern auch die Tatsache, dass Literatur Kommunikation ist.

Und zwar als in einem gewissen Sinn für notwendig befundene Kommunikation, die eben nicht aus dem heraus entstehen kann, was sich imaginäre Lesende wünschen, sondern aus dem, was geschrieben werden muss. Was um Himmels willen, werden Sie sich sagen, muss schon geschrieben werden!

Dringlichkeit und Relevanz

In der französischen Literatur fand ich in der letzten Zeit einige prominente Stimmen, die mit einer Wiederentdeckung der Gewaltfrage und der Drastik darauf antworten, durchaus oder gerade jenseits von Michel Houellebecq, eher schon in der Nähe von Didier Eribon.

Hier wird der Text als der Ort begriffen, in dem Sprache und schiere Körperlichkeit aufeinandertreffen oder sich eben gerade verfehlen müssen. In ihrer Dringlichkeit faszinieren die Bücher von Edouard Louis mit seinen Romanen, Virginie Despentes mit ihrer Vernon Subutex-Trilogie oder ihrer King Kong Theorie, Shumonha Sinha mit Erschlagt die Armen! Und ganz anders, etwas leiser, Annie Ernaux mit ihren musikalisch-soziobiografischen Rekonstruktionen.

Doch hat Dringlichkeit notwendigerweise etwas mit Lautstärke zu tun? Wer einmal Ágota Kristófs Das große Heft gelesen hat, weiß, dass das nicht stimmt. Und doch begleitet mich seit einiger Zeit dieses Gefühl, zu leise zu sein – es ist wie ein Fluch.

Auch jetzt gerade eben, in dieser Rede, denke ich mir, ich müsste krasser sein, müsste der Heftigkeit destruktiver, rechtsgerichteter Kräfte nicht mit mindestens derselben Brutalität entgegentreten, doch die Kraft der Literatur ergibt sich nicht aus einzelnen heftigen Gesten, sondern immer aus dem Zusammenhang, der zum Teil auch außerhalb ihrer selbst liegt.

Taugt Dringlichkeit überhaupt als Gegen- oder Alternativbegriff zu Relevanz? Viele würden jetzt sagen, bei beiden Begriffen handle sich bloß um zwei Seiten einer Medaille, die eine weist nach innen auf einen psychologischen Sachverhalt hin, die andere nach außen, auf eine soziale Bewertung, aber in Wirklichkeit hat Dringlichkeit auch eine soziale Dimension, und Relevanz ist nicht das, was einfach so naturwüchsig von allen gefragt wird, als wäre da nicht jede Menge Bewegung in die Sache gekommen, jede Menge Manipulation.

Als gäbe es nicht die vielbeklagten Selbstverstärkungsalgorithmen von Youtube, die Hate Speech und rechtspopulistische, verschwörungstheoretische Seiten in die ständige Sichtbarkeit rücken, die Social Bots, die als Meinungsgaranten auftreten, die gesteuerten Öffentlichkeiten.

Das alles erzählt uns doch, dass es eben nicht nur die vielen Klickzahlen allein sind, aber was, so kann man jetzt fragen, haben Klickzahlen auch mit Literatur zu tun? Das Prinzip des Likens im Netz baut auf eine Geschwindigkeit auf, die nicht mehr mit der einer Lesepraxis einhergeht, Literatur braucht eine gewisse Langsamkeit, um anzukommen.

Umgekehrt ist es auch nicht so, als könnte man den Begriff der Relevanz mit Diskurshoheit gleichsetzen. Weder Miguel de Cervantes, James Joyce, Gertrude Stein oder Elfriede Jelinek wollten mit ihren Werken eine Debatte bestimmen. Allerdings, das muss ich zugeben, lässt sich der Begriff der Dringlichkeit noch viel schwieriger kategorial bestimmen.

Warum ich ihn hier trotzdem einbringe, liegt in meiner Erfahrung, dass sie mit einer plötzlich klaren Sprache einhergeht. Keiner simplen, übersichtlichen, einer einleuchtenden, die in diesem Moment, gerade eben jetzt, deutlich geworden ist, auf musikalische Weise. Deutlich, und doch die Komplexität, die in ihr steckt, transportierend.

Mühen der Stofforganisation

Es ist einer der spannendsten Momente in der Produktion literarischer Texte, in dem diese Deutlichkeit zum Vorschein kommt. Das hervorzubringen liegt niemals nur an einer einzigen Entscheidung, sondern an einem Ensemble an Entscheidungen, es ist ein Prozess.

Wenn Heiner Müller schreibt, "Ich glaube, ein Stück kann nicht gut sein, wenn man nicht beim Schreiben alle Intentionen verbrennt", dann spricht er vermutlich über diese Prozesse.

Ich nehme an, an der Sprachkunst an der Angewandten in Wien wird diese Form der Verstofflichung angestrebt. Aber mit welchen chemischen Vorgängen? Gehen sie mit Hitzeentwicklung und Energiegewinnung einher, erzeugen sie Antrieb – wohin? Ist es eine negative Ökonomie, in der das Verhältnis von Intention, Material, Stoff und medialer Situation verhandelt wird?

Eine Aufreibung, in der auch die Überlegung, ob eine Handlung, eine Figur, eine Tonlage die Autorin, den Autor findet oder eben umgekehrt diese jene, überflüssig wird.

Für diese typische Wissenschaftsfrage legen sich Dramatikerinnen wie Prosaautorinnen irgendwann eine Erzählung zurecht, vielleicht, um die Hoheit über den Text zu behalten. Schließlich war es mühsam, den Rechercheprozess zu gestalten, der nicht alleine ein journalistisches Aussehen hat, die Mühen der Stofforganisation zu durchleben, die Korrekturen.

Wie oft steht man da und fragt sich, warum man das nicht professioneller hingekriegt hat. Mal ehrlich? War da nicht dieser Dokumentarfilmemacher oder jene Journalistin in ähnlichem Themengebiet unterwegs – habe ich nicht deren Rechercheplan gesehen? Die säuberlich aufbereiteten Listen mit den Kontakten?

Einen Plan über den Haufen werfen

Professionalität gilt unter Kunstschaffenden als heikle Kategorie, sie wird von jüngeren Generationen oft schärfer eingefordert als von älteren, vielleicht, weil sie annehmen müssen, dass sie die sind, die keine Fehler mehr machen dürfen.

Die Forderung nach Professionalität dient meist leider dazu, ein Zögern zu negieren, Gefühle der Ambivalenz plattzumachen, Ratlosigkeiten als unproduktiv zu bezeichnen. Die Tugend, einen Plan wieder über den Haufen werfen zu können, kann in unserer Welt gar nicht genügend unterrichtet werden!

Der Recherchevorgang ist dabei kein Block wie im Journalismus, kein mühsames Anhängsel, das man gerade so beherzt wie möglich in Kauf nimmt, sondern Teil der ästhetischen Produktion – was einer der großen Unterschiede zum Journalismus ist.

Da gibt es nicht schon feststehende Fragen, nicht diese Idee von Realitätsvermittlung, die immer noch an einer Vorstellung eines Schnappschussverhältnisses zur Wirklichkeit hängt. Auch Begriffe wie Angemessenheit, Plausibilität, Wirklichkeitsnähe helfen nicht, sie sind äußerst vage, schließen einander sogar aus.

"Dabei braucht es vielmehr Fehlerkultur im zwischenmenschlichen Kontakt, in der Literatur, so behaupte ich, in der richtigen Literatur findet sie längst statt." Kathrin Röggla
Foto: Birgit Peter Kainz

Keine normative Ästhetik oder Stilempfehlung wird uns hier helfen, Realismus ist weniger dezidierte Formvorstellung als Haltung, zu ihr gehört die Fähigkeit zum Staunen wie auch zur Abwehr, das Nichteinverstandensein, das haben Alexander Kluge und Elfriede Jelinek immer wieder gezeigt.

Eine Wurzel des Realismus ist Protest, was aber nicht heißt, dass Realismus mit diesem Protest gleichzusetzen ist. Der uns gegenwärtig begegnende Ausdruck vieler Wutbürger, die laut "Lügenpresse" skandieren, hat eher ein Problem mit dem Realismus, und es ist auch unser Problem.

Das Staunen verlernt

Nicht nur hat er das Staunen fast vollständig verdrängt, er negiert die Übersetzungsverhältnisse, in denen wir auf sehr unterschiedliche Weise stecken, behauptet Einsprachigkeit, wo doch zwischen Sprachen täglich jongliert werden muss.

Dass die Behauptung von glattlaufenden Übersetzungen ideologisch ist, das wissen auch Zeitungsredaktionen und Unternehmensführungen, weswegen sie andauernd von der Fehlerkultur in ihren Häusern sprechen.

Dabei brauchte es vielmehr Fehlerkultur im zwischenmenschlichen Kontakt -, in der Literatur, so behaupte ich, in der richtigen Literatur findet sie längst statt, schließlich ist ihr Material ein Übersetzungsmedium und kommt in allen möglichen Zuständen vor, sie ist mündlich, sie ist schriftlich, sie kann Bild werden und bloßer Klang, sie kann sogar schweigen, während sie spricht.

Was zur Poetik des Fehlers wie zur realistischen Haltung dazugehört, ist jede Menge Zukünftigkeit, und die ist in unserer Gegenwart Mangelware. Wir leben in Umbruchzeiten. Die politischen Krisen sind vielfältig.

Auf der einen Seite erleben wir einen gewaltigen zivilgesellschaftlichen Aufbruch, von Xtinction Rebellion bis zu kurdischen Demonstrationen in den Städten Europas, von dem Zusammenschluss der vielen bis zu allgemeinen Protesten gegen eine die Bevölkerung spaltende Regierung in Österreich, auf der anderen Seite Repräsentations- und Legitimationskrisen der ehemaligen Großparteien sowie großer Institutionen und Medien, ja, der Umbruch macht vor dem Kulturbetrieb nicht halt. Strategien, wie man nicht nur reagiert, sondern agiert, wie man nicht den Märkten hinterherläuft, sondern ihnen ein Schnippchen schlägt, ohne auf Grund zu laufen, sind notwendig.

Und welcher Ort wäre geeigneter als ein Institut für Sprachkunst! (Kathrin Röggla, 25.10.2019)