Wofür steht Schlankheit und wofür fleischliche Fülle? Fragen wie diesen geht die Choreografin Doris Uhlich in ihrem neuen Stück "Habitat" nach.

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Hat eine eigene "Fetttanztechnik" entwickelt: Doris Uhlich.

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Kleidung ist etwas Schönes, aber in unserer liberalen Kultur herrschen Anziehpflicht in der Öffentlichkeit und weitgehende Einigkeit darüber, dass dieses Gebot kein ernsthaft zu debattierendes Thema zu sein hat. Gut, wird man sagen, es ist ja echt nicht so schwer, beim sommerlichen Flanieren in der Stadt auch ein Gewand spazieren zu tragen. Es ist eine unauflösbar scheinende Debatte, die mit tief eingeschriebenen kulturellen Mustern zu tun hat.

Das Tabu hat aber grundsätzliche Nachteile. Es überantwortet das Veranschaulichen von Nacktheit der Pornografie und diversen Geschäftemachern, die stereotype und teils diskriminierende Körperbilder in die Welt setzen. So bleibt der allgemeinen, direkten Anschauung verborgen, welche Vielfalt das menschliche Fleisch in seinen Formen und Gestalten besitzt. Der Körper bleibt seiner Gesellschaft weithin fremd und schambesetzt. Genau das ist im zeitgenössischen Tanz, wie jetzt die österreichische Choreografin Doris Uhlich – wieder – zeigt, ein heißes Thema.

200 willige Nackedeie

Die Reaktion auf ihre Einladung, an ihrem neuen Projekt Habitat nackt teilzunehmen, hat Uhlich überrascht: "Der Aufruf kam nur in einem Abendprogramm und einem Newsletter, und innerhalb weniger Tage haben sich 200 Leute gemeldet." Von Freitag bis Sonntag werden sich nun 120 Tänzer und Nichttänzer jeglichen Typs und Geschlechts im Alter von 19 bis 77 Jahren in der vom Tanzquartier angemieteten Museumsquartier-Halle E unter die Besucher mischen.

Uhlich möchte, dass "in der nackten Einheit" der Performer die Vielfalt ihrer Körper erfahren wird. Trotz Verzichts auf Abgrenzung zum Publikum soll dieses keineswegs zum Nudistentum bekehrt werden. Es geht um die Erfahrung mit der Begegnung. "So teile ich meine Philosophie des Fleisches", sagt Doris Uhlich. Im Mittelpunkt steht nicht die perfekte Hochglanzfigur, sondern eher jene Art von Körpern, die tendenziell versteckt wird.

Fleischliche Fülle zum Beispiel hat bei der Choreografin bereits vor Jahren "eine sehr tänzerische Neugierde" geweckt: "Wie bewegt sich eigentlich das Fleisch um die Knochen, wenn du tanzt?" Im Umgang damit hat Uhlich ihre ganz spezielle "Fetttanztechnik" entwickelt, bevor sie 2013 eine ansehnliche Ansammlung bloßer Körper unter dem Titel more than naked auf die Bühne brachte. "So", sagt sie, "habe ich begonnen, das zu inszenieren, wofür ich früher auch bemängelt wurde – dass ich halt mehr Fleisch um die Knochen habe. Wovon ich zu viel habe, das kann auch mehr tanzen, meinen Körper in Vibrationen versetzen und Wellen schlagen. Diese Fettwellen haben mich zu Beginn wahnsinnig beglückt."

Schlankheit und Kapitalismus

Mit Blick über den Tellerrand des Hier und Jetzt stellt die Choreografin fest: "Auch die Zeit hat ihre Wellenbewegungen. In jeder Zeit kann man fragen, wofür Schlankheit und wofür mehr Fülle steht. In verschiedenen Kulturen hat Fülle auch unterschiedliche Bedeutungen. In unserer westlichen Gesellschaft bedeutet das Schlanke, sich zu zügeln, diszipliniert zu sein. Die Arbeit am schlanken Körper kommt aus einem kapitalistischen System, das uns in Fleisch und Blut übergegangen ist."

Im Umgang mit Nacktheit spiegelt sich eine Gesellschaft: "Oft ist es eine körperliche Reaktion auf etwas. In der Tanzwelt der 1920er-Jahre hat man begonnen, nackt zu tanzen, und wollte sich so enger mit der Natur verbinden. In den Sechzigern hat Nacktheit die Elterngeneration provoziert. In der Gegenwart gibt es ebenfalls politische Nacktheit, so wie bei der Gruppe Femen. Aber auch Politiker selbst haben sich schon ausgezogen, um zu sagen: Wer fit ist, ist auch mental stark." So wird Nacktheit zu Propagandazwecken instrumentalisiert.

Selbstbestimmt seit 2007

Spätestens seit 2007 ist der nackte Körper ein Leibthema von Doris Uhlich, als sie eine (Laien-) Darstellerin in ihrem Stück und sich ausziehen ließ. Das war nur möglich, weil die Künstlerin eine feinfühlige Art des Umgangs mit ihren Performern pflegt. "Mein Ideal ist: Ein selbstbestimmter Mensch bestimmt auch, welchen Körper sie oder er tragen möchte."

Aber was, wenn bei dieser Ermutigung auch jemand im Publikum auf die Idee kommt, sich auszuziehen? "Das ist für mich nichts Neues. Als wir einmal more than naked in Düsseldorf gezeigt haben, war ein Nudisten-Club im Publikum, dessen Mitglieder ihr Gewand in der Garderobe abgegeben haben. Das fand ich super! Wenn ein Tänzer nackt ist, warum soll das Publikum es nicht auch sein?" (Helmut Ploebst, 25.10.2019)