Noch wird nur sondiert: ÖVP-Chef Sebastian Kurz und Grünen-Bundessprecher Werner Kogler loten die Schnittmengen aus.

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Derzeit ist es noch ein vorsichtiges Abtasten zwischen Türkis und Grün. Als Wahlgewinner startet die ÖVP aus einer bequemen Position: Die Türkisen haben am meisten Erfahrung im Paktieren von Koalitionen. Doch welche Lehren können die Parteien aus der Vergangenheit ziehen, damit die Regierungsgespräche nicht zu einer inoffiziellen Fortsetzung des Wahlkampfs werden? DER STANDARD hat mit früheren Gesprächsteilnehmern, Politikwissenschaftern und Verhandlungsexperten über das richtige Vorgehen bei Koalitionsverhandlungen gesprochen.

Vertrauen schaffen

Ernsthafte Verhandlungen setzen ein gewisses Maß an Vertrauen voraus. Beim Sondieren müsse die "negative Beurteilung des Konkurrenten während des Wahlkampfes abgemildert werden", sagt Kulturwissenschafter Walter Ötsch. Inoffizielle Kontakte sollte es immer geben. Viele sehen hier eine Schwäche bei Sebastian Kurz. Maria Rauch-Kallat – sie saß 2003 als ÖVP-Spitzenpolitikerin mit den Grünen am Verhandlungstisch – bestreitet dies: "Das wird ihm unterstellt. Ich habe da ganz andere Erfahrungen gemacht." Deutlich sichtbar ist jedenfalls die Distanz zwischen Kurz und SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. "Zerrüttet" nennt der Politologe Peter Filzmaier deren Verhältnis, oder euphemistisch ins Politdeutsch übersetzt: "professionell". Daher auch das Signal der Roten: Verhandeln ja, aber aussondiert! Für zusätzliche Irritationen könnte noch etwas sorgen. Als Sieger, sagt Ötsch, wären ÖVP wie Grüne im Vorteil, denn Erfolg eint: "Die SPÖ und die FPÖ sind im Abwind. Da zerfällt eine Partei schnell in diverse Gruppen, die dann gegeneinander konkurrieren."

Auf Augenhöhe

Ein negative Variante, Verhandlungen zu sehen, sei, diese als Pokerspiel zu betrachten, sagt Filzmaier. Da gebe es am Ende nur die Einteilung in Sieger und Verlierer: Tarnen, täuschen und bluffen – das führe entweder nur zum Scheitern der Gespräche oder zu Problemen in einer Koalition. Auch Rauch-Kallat warnt davor: "Natürlich soll man versuchen, so viele Positionen wie möglich aus dem eigenen Wahlprogramm unterzubringen. Aber den anderen über den Tisch zu ziehen, das geht nicht." Wie man sein Gegenüber düpieren kann, zeigt ein Beispiel aus den Verhandlungen von Schwarz und Rot aus dem Jahr 2002. Damals legte die ÖVP der SPÖ den von ihr verlangten Kassasturz auf einem DIN-A4-Zettel vor. Damit der Haushalt der Republik schnell analysiert werden kann, haben die Grünen ihre Finanzexpertise aufgestockt und den Volkswirt Josef Meichenitsch zum Sondierer ernannt. Eine Lehre aus den gescheiterten Gesprächen von 2003. Damals bezweifelten sie zwar die Zahlen, die von Finanzminister Karl-Heinz Grasser vorgelegt wurden, konnten sie aber nicht aus dem Stegreif überprüfen.

Strategische Überlegungen

Schon die Ortswahl ist ein Statement. Wird der mögliche Partner ins Bundeskanzleramt bestellt oder wird ein neutraler Gesprächsort gewählt? Wichtig ist natürlich auch die Zusammenstellung des eigenen Verhandlerteams und die Rollenverteilung darin – guter Bulle, böser Bulle. Kurz hat es geschafft, sich von Bünden und Ländern freizuspielen. Er verhandelt mit seinen Vertrauten. Die Grünen können sich – anders als bei den Verhandlungen im Jahr 2003 – zumindest das Know-how von Ländervertretern, die bereits mitregieren, holen. Und die anderen? Die FPÖ will eigentlich nicht, lässt es aber offen, und die SPÖ setzt weiter auf die alten Strukturen – heißt: Natürlich war auch ein Gewerkschafter mit von der Partie. Parteiströmungen abzubilden, ist selten hilfreich. Oft sind Parteisekretäre im Team, um heikle Kompromisse in der Partei durchzusetzen. Für Karl Schlag, Spieltheoretiker an der Uni Wien, sind die vielen öffentlichen Positionierungen nur eines: Theaterdonner. Hinter verschlossenen Türen dominiere auch bei Parteiengesprächen Pragmatismus. Schlag rät, mit jener Partei die Verhandlungen zu beginnen, bei der eine größere Unsicherheit herrsche. Den Partner, mit dem man sich am ehesten verständigen kann, soll man sich aufheben – Pragmatismus eben.

Informationsvorsprung

Einen Startvorteil haben ehemalige Regierungsparteien. Sie kennen die Ministerien und haben Einblick in die Budgets. Die derzeitige Konstellation hilft damit der ehemaligen Opposition und den Grünen. Die Ressortchefs der Übergangsregierung werden wohl alle Parteien gleichermaßen informieren. Das Interregnum sorgt daher für Waffengleichheit. Eine Partei, die gut vorbereitet in Wahlen geht, hat auch informell längst vorgesorgt. Wer als Erster ein Positionspapier vorlege, sei im Vorteil, sagt der Politologe Filzmaier: Selbst bei erwartbaren und damit planbaren Abstrichen bleibe es die Grundlage für Entscheidungen. Die große Manpower verschafft der ÖVP auch einen Vorsprung – im Vergleich zu den Grünen, die überhaupt erst ein Team neu aufbauen müssen. Was für die öffentliche Wahrnehmung entscheidend ist, umreißt Kulturwissenschafter Ötsch: "Kurz ist der bessere Erzähler, das ist sein Talent."

Schwierige Themen

Was tun, wenn es sich spießt? Themen nach hinten verschieben? Auslassen? Zerstückeln? Die Experten raten zu Ersterem: Also lieber mit Themen beginnen, die rasch außer Streit stehen, und drei Leuchtturmprojekte definieren (Beispiel Steuerreform). Damit könne man auch von den Problembrocken besser ablenken. Kleine erste Erfolge sorgen für gute Stimmung, sagt Spieltheoretiker Schlag. Das könne dann bei den großen Themen helfen, sich anzunähern. Eine andere Lehre aus der Spieltheorie: Jeder soll Vorschläge unterbreiten, auf die das Visavis mit einem Gegenoffert reagiert. Dieses Hin und Her sorge dafür, dass die eigenen Positionen ständig adaptiert werden müssen. Ein Kompromiss rücke näher. Denkbar, aber in Österreich unüblich wäre, einen koalitionsfreien Raum zu definieren. Der Haken: Eine Flanke für die Opposition ist eröffnet, die dann wohl ständig auf derartige Punkte abzielen würde.

Angst vor der Personaldebatte

Von allen Beteiligten wie ein Mantra wiederholt gehört der Stehsatz, dass über Inhalte und nicht über Personen gesprochen werde. Es ist die Sorge vor einer negativen Zuschreibung. Nur: Wer Themen forciert, will dort auch gestalten. Dass etwa die Grünen auf ein Umweltressort spitzen, ist keine Überraschung. Und dass die FPÖ bestimmte Ministerien – derzeit zum wiederholten Mal das Innenressort – für sich reklamiert, kann als amtlich angesehen werden.

Faktor Zeit

Nicht drängen lassen, sagt einer, der 2003 auf grüner Seite verhandelt hat. Dem stimmt Rauch-Kallat zu: "Grundsätzlich sollten sich die Verhandler nicht stressen lassen." Natürlich müsse es ein Zeitkorsett geben, "das sollte aber intern bleiben, weil ein offizieller Zeitpunkt nur unnötig Druck erzeugt." Den, so prognostiziert Politikwissenschafter Filzmaier, wird Kurz spüren, wenn sich bis Weihnachten keine Einigung abzeichne. Ein Blick in die Statistik zeigt: Durchschnittlich dauern Verhandlungen 68,4 Tage. Der bislang ungebrochene Rekord von 1962/63 liegt bei 129 Tagen. In Belgien schreckt das kaum jemanden. Nach der Wahl 2010 dauerte es 541 Tage, bis eine neue Regierung gebildet wurde. (Marie-Theres Egyed, Peter Mayr, 25.10.2019)