Endspiel, 89. Minute. Auf dem Spielfeld regiert das Chaos, das gegnerische Tor ist verwaist, der Keeper offensichtlich verrückt geworden. Doch der Stürmer, Jeremy Corbyn sein Name, zaudert so quälend lang, ob er im linken Eck einnetzen will oder doch im rechten, dass das runde Leder schließlich am Ziel vorbeirollt.

So ähnlich ist das Bild, das die britische Labour-Partei dieser Tage abgibt. Anstatt von dem spalterischen Kurs des Boris Johnson zu profitieren, steuert die einst stolze Arbeiterpartei bei den wohl bald anstehenden Neuwahlen auf ein Fiasko zu. Zwölf Prozentpunkte liegt Labour in manchen aktuellen Umfragen hinter der konservativen Chaostruppe, die Großbritannien in seine schwerste Krise seit 1945 geführt hat. Eine größere Chance auf einen fulminanten Sieg ist im zeitgenössischen Demokratiegefüge eigentlich kaum vorstellbar. Doch Corbyn, der Stürmer ohne Zug zum Tor, ist als glaubwürdige Alternative krachend gescheitert. Aus Angst vor seinen Wählern hat sich der rote Kapitän auf dem Feld eingemauert, ohne sich jemals wirklich festzulegen.

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Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn.
Foto: PA via AP/Danny Lawson

Nicht nur hätte er mit etwas mehr Herzblut durchaus den Brexit als Ganzes verhindern können. Schon vor der verhängnisvollen Volksbefragung 2016 hatte sich der Oberrote schließlich nicht zu einer klaren Linie durchringen können. Und während drei Jahre später große Teile von Labour angesichts des Berserkers in der Downing Street zu einer Anti-Brexit-Bewegung mutiert sind, wagt ihr Chef auch jetzt nicht den Sprung über seinen insgeheim immer schon antieuropäischen Schatten.

Während Johnsons Haudrauf-Populismus bei dessen meist EU-skeptischen Wählern verfängt, hat Corbyn die Proeuropäer in seiner Partei – fast zwei Drittel der Labour-Wähler stimmten 2016 für "Remain" – verraten. Der Rücktritt des Corbyn-Beraters Andrew Fisher auch wegen des flatterhaften Brexit-Kurses des Chefs im September hätte ein letzter Weckruf sein können. Bloß: Er blieb ungehört.

So überlässt Corbyn die Stimmen der Proeuropäer den Liberaldemokraten. Nicht auszudenken, wie das Match ausginge, stünde etwa sein Vorgänger Ed Miliband noch für die Roten auf dem Feld. Am Ende dürfte Stürmer Corbyn den Ball noch ins eigene Tor stolpern und die verdiente Arbeiterpartei spalten. Tragisch nur, dass es angesichts des Brexits kein Spiel ist, das Corbyn gerade im Begriff ist zu verlieren, sondern bitterer Ernst. Und der Schlusspfiff naht. (Florian Niederndorfer, 24.10.2019)