Die Zeit des aktuellen Unterhauses ist abgelaufen, findet Premier Boris Johnson. Die Mandatarinnen und Mandatare sehen das vorerst in der Mehrzahl noch anders.

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London – Boris Johnson hat es also doch getan. Entgegen seiner Ankündigung "Komme, was wolle" am 31. Oktober aus der EU auszutreten, setzt nun auch er auf eine Verlängerung – und darauf, sie in seinem Sinne zu nutzten. Schon am Freitag könnte die EU jener Vertagung des EU-Austritts zustimmen, die der Premier am Samstag auf Geheiß des Parlaments beantragen musste. Bis zum 31. Jänner wäre dann Zeit – Zeit, die Johnson für eine Neuwahl nutzen will. Dafür ist er allerdings auf die Zustimmung der anderen Parteien angewiesen, für eine Neuwahl braucht es die Zustimmung von Zwei Dritteln aller Unterhausabgeordneten.

Und zumindest bisher scheinen dafür die Stimmen zu fehlen. Die kleineren proeuropäischen Oppositionsparteien SNP und Liberaldemokraten halten den Neuwahlplan für einen Schachzug Johnsons, um doch noch einen schnellen Brexit zu bekommen. Bleiben die Sozialdemokraten, die mit ihren 242 Abgeordneten mehr als ein Drittel des House of Commons stellen und deren Zustimmung daher zumindest in Teilen nötig ist.

Sie alle gaben sich in ersten Reaktionen äußerst zögerlich – was auch daran liegt, dass die Neuwahl für alle Parteien eine Frage der Taktik ist. Ein Überblick:

  • Konservative

Premier Johnson fordert zwar schon seit Wochen eine Neuwahl – nun, da sie möglich erscheint, ist sie aber auch in seinem Kabinett nicht mehr unumstritten. Bei einer Sitzung am Donnerstagabend sollen die Ministerinnen und Minister alles andere als einig über das weitere Vorgehen gewesen sein. Dass Johnson nun lieber das Volk befragen will, als sein fertiges Austrittsabkommen durchs Parlament zu bugsieren, fanden nicht alle gut. Nordirland-Minister Julian Smith sagte gar, die Idee einer Neuwahl sei "Wahnsinn", gerade jetzt, wo Zustimmung zum EU-Deal im Unterhaus schon greifbar scheine.

Herausgekommen ist nun ein Plan, den zumindest Johnson als Kompromiss verkauft: Das Unterhaus solle seiner Neuwahlforderung am Montag zustimmen – und könne dann noch bis zum 6. November, dem Tag der Parlamentsauflösung, über die Ratifizierung seines "exzellenten Deals" mit der EU diskutieren und abstimmen. Sagen die Mandatare hingegen nicht Ja zu einer Neuwahl, will das Kabinett auf stur stellen und – nach eigenem Bekunden – "streiken". Es will dann die Regierung auf das Nötigste reduzieren und dem Parlament keine neuen Gesetze vorlegen. Stattdessen will es täglich auf eine Neuwahl drängen. Auch über den EU-Deal könnte dann nicht mehr diskutiert oder abgestimmt werden. Johnsons Regierung, so britische Journalisten, will die Opposition damit ermüden und letztlich zu einer Neuwahl zwingen.

Zu überzeugen hat Johnson schließlich noch jene 21 Abgeordneten, die er Anfang September aus der Partei ausgeschlossen hat. Für sie würde eine Neuwahl wohl den Verlust ihres Jobs bedeuten – denn nach aktuellem Stand dürfen sie bei einem nächsten Urnengang nicht mehr unter der Flagge der Konservativen antreten. Ihr Interesse an baldigen Wahlen dürfte sich daher in Grenzen halten.

  • Labour

Die größte Oppositionspartei befindet sich in einer unguten Situation. Monatelang hatten Parteichef Jeremy Corbyn und seine Mitstreiter eine Neuwahl gefordert, seit Wochen machen sie Stimmung für einen Rücktritt von Premier Johnson. Einem Urnengang zustimmen wollen sie bisher trotzdem nicht. Dafür sorgt, zum einen, ein Blick auf die Umfragen: Seit Johnsons Regierungsübernahme liegen die Konservativen stabil in Front – auch wenn der Abstand zwischen den unterschiedlichen Umfrageinstituten stark schwankt.

Zum anderen ist es die Angst vor einem ungeregelten Brexit, die in der Partei umgeht: Bis dieser ausgeschlossen sei, wolle man einem Urnengang keinesfalls zustimmen, hatten Parteigranden am Donnerstagabend versichert. Wie genau das passieren soll, ließen die Sozialdemokraten vorerst offen – und damit auch die Frage: Reicht das Zugeständnis der EU, den Austrittstermin auf den 31. Jänner zu verschieben? Auch im Gespräch ist nämlich eine andere Forderung, die sich auf die Zeit nach dem eigentlichen Brexit bezieht: Es müsse ausgeschlossen werden, dass Briten und EU nach dem Ende der Übergangsphase 2021 auf die Handelsregeln der WTO zurückfallen.

Und letztlich stellt sich für Labour auch eine Frage der Taktik: Wenn es schon einen EU-Austritt geben muss, ist es dann nicht besser, erst danach zu wählen? Bis zum Brexit kann Johnson seine Basis mobilisieren, während Labour proeuropäische Wählerinnen und Wähler an die Liberaldemokraten verliert. Ist der Europa-Abschied erst einmal in trockenen Tüchern, könnte Johnson zwar damit punkten, Wort gehalten zu haben – das Heilversprechen des Brexits hätte er aber schon eingelöst. Ob das Wahlvolk sein sonstiges Programm gutheißt, ist offen. Labour könnte in der Kampagne dann auf andere Argumente setzen – etwa auf Sozialpolitik und wirtschaftliche Fragen. Gewinnen sie dann die Wahl, könnten die Sozialdemokraten bis zum Ende der Übergangszeit 2021 zumindest noch eine enge Bindung an die EU ausverhandeln.

  • Liberaldemokraten und SNP

Die schottischen Nationalisten und die Liberaldemokraten eint ein europapolitischer Wunsch: Sie wollen in der EU bleiben. Eine Neuwahl, die Johnson gewinnen könnte, ist daher ein zu großes Risiko. Einzige Chance hingegen ist aus ihrer Sicht ein neuerliches Referendum. Dieses könnten die Parlamentarierinnen und Parlamentarier einem Neuwahlantrag anhängen – dass sich dafür eine Mehrheit findet, ist vorerst aber nicht wahrscheinlich. Alternativ könnten anderen Gesetzen Abänderungsanträge beigefügt werden, die ebenfalls ein Referendum verlangen.

Unwahrscheinlich, aber immerhin möglich wäre es, ein Referendum im Gegenzug für eine Neuwahlzustimmung der Regierung abzupressen. Dann müsste aber auch Labour von der Idee überzeugt werden – oder zumindest eine beträchtliche Zahl einzelner Labour-Abgeordneter und gemäßigter Konservativer. Denn ohne Sozialdemokraten ist kein Neuwahlbeschluss möglich.

  • EU

Bleibt als letzter Spieler die EU. Von ihrem Ja zu einer Austrittsvertagung auf den 31. Jänner ist abhängig, ob überhaupt Zeit für Neuwahlen bleibt. Brüssel ist es freigestellt, einen anderen Austrittstermin vorzuschlagen. Liegt dieser nicht weit genug in der Ferne, müssten die Abgeordneten versuchen, doch noch Johnsons Deal zu beschließen, um nicht ohne Deal aus der EU zu fallen.

Dabei ergibt sich eine skurrile Situation. Die EU-Staaten billigten am Freitag die Verschiebung grundsätzlich, setzten aber noch kein Datum fest. Man wolle das Neuwahlvotum am Montag abwarten, heißt es aus Brüssel. Da beißt sich die Katze aber in den Schwanz: Denn immerhin wollen viele Mandatarinnen und Mandatare ihr Votum über eine Neuwahl davon abhängig machen, ob es eine Verlängerung gibt. (Manuel Escher, 25.10.2019)