Koalitionäre in spe Kurz und Kogler: Was die Türkisen beschlossen haben, ist den Grünen zuwider.

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Das Thema ist eine der großen Hürden auf dem Weg zu einer türkis-grünen Koalition: ÖVP-Boss Sebastian Kurz will an der neuen Sozialhilfe nicht rütteln lassen, weil diese sein Image als Kämpfer gegen die "Einwanderung ins Sozialsystem" unterfüttert. Grünen-Chef Werner Kogler hingegen hält den Einsatz gegen Kinderarmut hoch, ein Kernanliegen seiner Partei.

Was ist so giftig an dem Modell, zu dem die türkis-blaue Regierung die alte Mindestsicherung abgespeckt hat? In Kraft ist die Sozialhilfe neu noch nirgends, aber zwei Bundesländer haben die Vorgaben bereits in Gesetze gegossen. DER STANDARD hat nachgerechnet, was dies für Bezieher in Nieder- und Oberösterreich bedeutet.

Vorab eine kurze Auffrischung: ÖVP und FPÖ haben das Prinzip des alten Systems umgedreht, statt Mindeststandards gelten nun Höchstlimits. Ein Einzelbezieher hat Anrecht auf eine Leistung in Höhe der Netto-Ausgleichszulage, eine Art Mindestpension. Mit Stand 2019 sind das 885 Euro im Monat. Paare im gemeinsamen Haushalt erhalten nur mehr 70 statt 75 Prozent dieses Grundbetrags, also 620 Euro pro Person. Für das erste Kind gibt es zusätzlich 221 Euro, für das zweite 133 Euro, ab dem dritten 44 Euro.

Niederösterreich und Oberösterreich haben diese Werte übernommen, also nicht unterschritten. Ob das eine Verschlechterung zum Status quo bedeutet, hängt vom bisherigen in den Ländern unterschiedlichen Leistungsniveau ab.

Familien: Klassische Familien mit zwei Elternteilen sind zumindest in Niederösterreich durchwegs Verlierer. Bei einem Kind beträgt das monatliche Minus 71 Euro in Niederösterreich, bei zwei Kindern 142, bei drei 301, bei vier 462. Dass die neuen Regeln, wie Türkise und Blaue mitunter suggerieren, vor allem auf Ausländer abzielten, ist also nicht belegbar.

In Oberösterreich ist die Sache komplizierter, da die Leistung hier bisher grundsätzlich mit 1512 Euro begrenzt ist. Von diesem "Deckel" gibt es eine Reihe von Ausnahmen, etwa für Eltern mit Kleinkindern, Menschen mit anderen Betreuungspflichten oder für arbeitsunfähige Personen. Familien, die bisher nicht unter diese Begrenzung fielen, erwartet durch die neue Sozialhilfe ähnliche Einbußen wie in Niederösterreich: 53 Euro beim ersten Kind, 137 Euro beim zweiten, 309 Euro beim dritten und 449 Euro beim vierten. Fielen die Betroffenen bisher aber unter die Deckelung, dann dürfte das Modell sogar ein Plus bringen: 82 Euro bei zwei Kindern, 126 Euro bei drei Kindern.

Alleinerziehende: Für Mütter und Väter ohne Partner gibt es künftig einen gestaffelten Bonus pro Kind. In Niederösterreich bekommen Alleinerziehende mit einem Kind deshalb 123 Euro mehr als bisher, in Oberösterreich 75 Euro, bei zwei Kindern sind es 132 und 72 Euro. Ab dem dritten Sprössling kippt das Plus in Oberösterreich jedoch in ein Minus (46 Euro), weil der Kinderzuschlag eben weit unter dem bisherigen Niveau liegt – sofern die Bezieherin bisher nicht unter den Deckel fiel. In Niederösterreich gilt das Gleiche ab dem vierten Kind.

Außerdem warnt die Armutskonferenz vor einer Falle. Eine Alleinerziehende in Untermiete falle um den Bonus um und bekomme nur die 620 Euro Paarleistung, so die Befürchtung, denn die Gesetze halten fest: Sobald eine "gemeinsame Wirtschaftsführung" nicht ausgeschlossen sei, handle es sich um eine Haushaltsgemeinschaft. Sozialexperte Walter Pfeil von der Uni Salzburg schließt sich dieser Interpretation an – und selbst wenn die Behörde den Passus doch milder auslege: "Der Willkür ist Tür und Tor geöffnet."

Wohnkosten: Das Bundesgesetz erlaubt den Ländern, auf die Basisleistung bis zu 30 Prozent draufzulegen, falls die Wohnkosten – wie etwa oft im Westen – andernfalls unbezahlbar sind. Das Umland Wiens und das oberösterreichische Industriedreieck sind zwar auch nicht billig, dennoch haben beide Länder den Spielraum ignoriert, analysiert Pfeil: Extras sind nicht vorgesehen.

In Niederösterreich attestiert das dortige Armutsnetzwerk vielmehr eine Verschlechterung: Das Gesetz schließt den gleichzeitigen Bezug von "Hilfe in besonderen Lebenslagen", um etwa Mietrückstände oder offene Betriebskosten zu begleichen, aus. Zwar gibt es eine Härtefallklausel, doch die ist dezidiert nur für einmalige Ausgaben da, etwa eine Kaution oder einen neuen Kühlschrank.

Behinderte: Für Menschen mit Behinderungen gibt es einen Zuschlag von 18 Prozent zur jeweiligen Basisleistung. Ein Paar mit einem behinderten Kind etwa erhält in Niederösterreich damit 80 Euro mehr als bisher, in Oberösterreich 98 Euro. Leben Behinderte aber in einer therapeutischen Wohngemeinschaft, kann auch ein Minus herauskommen. Grund: Ab der dritten Person im Haushalt gewährt die Sozialhilfe als Basisleistung nur mehr 399 Euro im Monat. Eine sechsköpfige WG steigt trotz Behindertenbonus deshalb mit einem Minus von 195 Euro (NÖ) und 105 Euro (OÖ) aus.

Wohngemeinschaften: Aus demselben Grund verlieren in Niederösterreich alle "normalen" WGs. Bei drei Personen beträgt das Minus 354 Euro, bei sechs gleich 885 Euro.

Ausländer: Wer über keine Deutsch- oder Englischkenntnisse auf einem bestimmten Niveau verfügt, dem wird die Leistung um 35 Prozent – 310 Euro für Einzelne – gekürzt.

Dies zielt wie die WG-Regelung auf Flüchtlinge ab – was einen koalitionären Kompromiss nicht leichter macht: Was die ÖVP als Signal versteht, ist den Grünen zutiefst zuwider. (Gerald John, 27.10.2019)