Magnus Carlsen und Fabiano Caruana grübeln.

Foto: Nick Barton

Wien/Oslo – Schach ist ja eigentlich kompliziert genug. Aber nicht für Bobby Fischer: Das Enfant Terrible, das der Sowjetunion 1972 den Weltmeistertitel entriss, fürchtete schon vor Jahrzehnten die Verflachung des Spiels auf höchstem Niveau in Folge zu weit ausanalysierter Eröffnungen. Warum also nicht ein wenig Randomisierung?

Mit ein paar kleinen Einschränkungen (die Läufer müssen auf verschiedenfarbigen Feldern stehen, der König zwischen den Türmen) entstehen so 959 neue spiegelsymmetrische Anfangsstellungen für eine Schachpartie, das unerschöpfliche Spiel wird noch unerschöpflicher, auswendiggelernte Varianten können sich Amateure wie Profis in dieser Spielart noch vor dem ersten Zug einmargerieren. Außer natürlich, es wird ausgerechnet Position Nummer 518 aufs Brett gelost, die Anfangsstellung des Normalschachs – die Göttin des Zufalls möge abhüten.

Die Anfansgsstellung an Tag 1.

Was in den 90ern noch eher der harmlosen Unterhaltung diente, erlebt seit ein paar Jahren einen zweiten, seriöseren Frühling: Bobby Fischer war seiner Zeit voraus, eine gewisse Lähmung des Schachs auf allerhöchstem Niveau ist inzwischen mitunter feststellbar. Der mit langer Bedenkzeit gespielte Teil des vergangenen WM-Kampfes Carlsen vs. Caruana etwa endete nach zwölf Partien mit 6:6 unentschieden, ohne eine einzige gewonnene Partie.

Das passiert nicht oft und wird auch in Zukunft eher die Ausnahme bleiben. Dennoch steht der Weltschachbund FIDE einer Verbreiterung der schachlichen Palette vielleicht auch solcher Ergebnisse wegen nicht mehr ganz ablehnend gegenüber: Zu den Weltmeisterschaften mit klassischer Bedenkzeit sowie im Schnellschach, im Blitzen und im Problemkomponieren wie Problemlösen (ja, die gibt es schon lang), gesellt sich dieses Jahr zum ersten Mal eine offizielle FIDE-Weltmeisterschaft im Fischer Random Chess.

Zufallsschach ohne Zufallssieger

Und siehe da, es ist allem Zufall zum Trotz immer noch waschechtes Schach, das da gespielt wird! Das beweist sich schon daran, dass Amateure im Fischerschach gegen die Riege der Carlsen und Co. mindestens ebensowenig Land sehen wie in der seit Jahrhunderten analysierten klassischen Spielform. Trotz einer für jeden Spieler, der fünf Dollar berappte, offenen Online-Qualifikationsphase, schafften es ausschließlich die allseits bekannten Kapazunder in die höheren Ausscheidungsrunden. Und auch dort setzten sich durchwegs die Favoriten gegen ihre Kollegen aus der zweiten Großmeisterreihe durch.

Das Geheimnis nennt die Psychologie "Pattern Recognition", sie ist im Schach wie in allen elaborierten menschlichen Tätigkeiten erheblich wichtiger als stures Auswendiglernen. Und funktioniert auch, wenn die Figuren anfangs anderswo stehen als sonst: sie bleiben ja in der Regel nicht bis zum Ende der Partie dort hocken.

The usual suspects

So stehen also nun vier übliche Verdächtige im Semifinale der ersten offiziellen Fischer-Random-WM der Geschichte, deren Endrunde bis zum 3. November in Baerum, Oslo ausgetragen wird. Einer der vier wurde allerdings dorthin gesetzt: Ein gewisser Magnus Carlsen, 28 Jahre alt, Nummer eins der Welt, seit 2013 Weltmeister im klassischen Schach. Da der Norweger vergangenes Jahr den US-Amerikaner Hikaru Nakamura in einer inoffiziellen Fischerschach-WM vernichtend geschlagen hat, folgt diese Setzung einer gewissen Logik.

Zum Weltmeister gesellen sich mit Fabiano Caruana, Jan Nepomnjaschtschi und Wesley So die Nummern zwei, sieben und zwölf der Live-Weltrangliste im Normalschach, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten (der Modus hat in puncto Konsistenz noch Luft nach oben) in das Turnier eingestiegen waren. Ab nun wird nach dem Knock-out-Prinzip gespielt, die Auslosung bescherte den Kontrahenten der letzten klassischen WM, Carlsen und Caruana, ein wohl unerwünschtes Stelldichein im Semifinale.

Rapides Random

Gespielt wird in Oslo ein Mix aus vier sogenannten langsamen (netto eine Stunde Bedenkzeit pro Spieler) sowie vier schnellen Rapid-Partien (15 Minuten plus zwei Sekunden Zugbonus), ergänzt durch vier Blitzpartien (drei Minuten plus zwei Sekunden Zugbonus). Je länger die Bedenkzeit, umso mehr zählt ein Sieg, nach drei Spieltagen wird dann zusammengerechnet: Steht es unentschieden, muss eine Armageddon-Blitzpartie (Weiß hat mehr Bedenkzeit, ist dafür aber zum Siegen verdammt) über den Einzug ins Finale entscheiden, wo derselbe Modus zum Einsatz kommt.

Warum ausgerechnet im Fischerschach nur mit verkürzter Bedenkzeit gespielt wird, während die Profis in der Normalvariante, in der sie oftmals ohne Nachdenken 20 Züge Eröffnungstheorie aufs Brett stellen, über mehrere Stunden verfügen, ist eine der großen ungeklärten Fragen des königlichen Spiels. Aber es ist so. Ob die verglichen mit dem Normalschach deutlich niedrigere Remisquote der neuen WM-Disziplin mehr den unausgetretenen Pfaden des Fischerschachs oder dem Zeitdruck geschuldet ist, lässt sich unter diesen Bedingungen nicht mit Sicherheit sagen.

Blutiger Beginn

In jedem Fall geht bei C&C gleich an Tag eins ordentlich die Post ab: Ausgangs der Eröffnungsphase verirrt sich in der ersten Partie Magnus Carlsens weißer Läufer auf Bauernraubmission am Brettrand. Caruana sackt den Offizier humorlos ein und fügt dem Weltmeister im Endspiel per elegantem Springeropfer eine sicher schmerzhafte Auftakt-Niederlage vor Heimpublikum zu. Auch in Partie zwei scheint der Italo-Amerikaner, diesmal selbst mit Weiß spielend, am Drücker. Diesmal ist Carlsens Läufer auf b8 ein Problembär, der nicht aus den Startlöchern kommt und den ganz klassisch auf a8 residierenden Turm an der spielerischen Entfaltung seiner Kräfte hindert.

Aber dann zeigt der Weltmeister, warum er in jeder Sorte Schach zu fürchten ist: Mit einem eleganten Bauernopfer schafft Carlsen sich Zeit, um seine Entwicklung abzuschließen, und plötzlich sind es Caruanas weiße Figuren, die unkoordiniert wirken. Der Vizeweltmeister gibt den Bauern zurück, landet aber in einem beschwerlichen Endspiel, in dem Carlsens zur Brettmitte sprintender Monarch den Unterschied macht: Schwarz gewinnt.

Fischers Füllhorn

So steht es nach Tag eins zwischen Carlsen und Caruana 3:3 unentschieden (ein Sieg in den vergleichsweise langsamen Partien zählt drei volle Punkte). Auch Wesley So und Jan Nepomnjaschtschi halten bei diesem Score, den sie durch zwei äußerst turbulente Remis-Partien erreichten, in denen der Russe mehrere Großchancen ausließ.

Am Montag werden ab 17:30 MEZ je zwei weitere Partien gespielt, die auf der Veranstalterseite per Livestream und mit Kommentar verfolgt werden können. Die Anfangsstellung wird an jedem Spieltag frisch aus Bobby Fischers Füllhorn der 960 Möglichkeiten geschüttelt, wobei den Spielern etwas Zeit eingeräumt wird, die Stellung mit ihren Sekundanten zu analysieren, bevor sie sich zur Partie ans Brett setzen. (Anatol Vitouch, 28.10.2019)