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Schützenswert, oder?

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Barbara-Amina Gereben-Krenn ist Senior Lecturer am Department für Integrative Zoologie.

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Andrea Möller leitet das Österreichische Kompetenzzentrum für Didaktik der Biologie und ist Professorin am Department für Integrative Zoologie der Universität Wien.

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Haben Sie heute schon bewusst Natur wahrgenommen? Sich gefragt, welchen Vogel habe ich eben gehört? Müssen Sie sich eingestehen, dass Sie sich schon lange nicht mehr gefragt haben, was Ihnen in der Natur begegnet ist – obwohl Sie an Wochenenden mit dem Mountainbike unterwegs sind oder eine Skitour machen? Die Landschaft ist zur Kulisse und zum Sportgerät degradiert worden. Wir haben uns von der Natur entfremdet.

Österreich (k)eine Insel der Seligen

Wir befinden uns mittlerweile mitten im sechsten großen Artensterben, nachdem zuletzt die Saurier ausgestorben sind. Diesmal ist das Massensterben jedoch anthropogen verursacht. Die täglichen Meldungen über den weltweiten Biodiversitätsverlust werden in unserem Land gerne relativiert. Österreich versiegelt und verbaut täglich 12,9 Hektar Boden – europäischer Spitzenwert. Tourismus- und Lebensmittelwerbung gaukeln uns aber eine heile Umwelt vor.

Große Teile Österreichs werden durch die Alpen geprägt, die wilde und intakte Natur darstellen sollen. Ja, Österreich beherbergt in Relation zu seiner kleinen Fläche eine (noch) relative hohe Artenzahl. Derzeit werden für Österreich beispielsweise 54.125 Tierarten angegeben, davon rund 75 Prozent Insekten als artenreichste Tiergruppe. Jedoch sind über die Hälfte der Wirbeltiere ("Fische", Amphibien, "Reptilien", Vögel und Säugetiere) in der "Roten Liste" als gefährdet oder ausgestorben angegeben.

Aber: Für einige der artenreichsten Gruppen wie etwa Käfer liegen aktuell nur Schätzungen über deren tatsächliche Artenzahl vor. Wir haben keine Kenntnisse zu Verbreitung und Häufigkeit vieler Arten, und es liegen für viele keine Beschreibungen ihrer Entwicklungsstadien, zum Beispiel Raupen, vor. Das sind aber grundlegende Daten, die weitere Forschungsfragen erst ermöglichen. Das Datendefizit führt dazu, dass wir gegenwärtig von nur 10.800 Tierarten überhaupt eine Gefährdungseinstufung in den sogenannten "Roten Listen" haben. Wir wissen also gar nicht, wer überhaupt gefährdet ist.

Wenige Daten, aber alarmierende Befunde

Die wenigen Untersuchungen, die sich mit dem Monitoring der Artenvielfalt beschäftigen und die oft nur mithilfe sachkundiger Laien durchgeführt werden können, zeigen erschreckende Befunde: Etwa 40 Prozent der Kulturlandschaftsvögel Österreichs sind im Zeitraum von 1998 bis 2018 im Schnitt verschwunden. Eine Studie aus Deutschland hat einen über 75-prozentigen Biomasseverlust von Insekten in Naturschutzgebieten (!) nachgewiesen, der wohl auch für Österreich anzunehmen ist.

Automarken kennt man, Vogelarten Fehlanzeige

Diese dramatischen Veränderungen in der Landschaft fallen nur wenigen auf, da der Blick dafür nie geschult wurde, weil es als nicht mehr zeitgemäß oder notwendig gilt. Studien zeigen, dass Volksschulkinder im Schnitt zwölf Automarken, drei Vogelarten und zwei Baumarten richtig zuordnen können. Die Vermittlung der Artenkenntnis taucht regelmäßig als Beispiel für die "notwendige Entrümpelung" von Lehrplänen an Schulen und an Universitäten auf. Nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch zukünftige Biologie-Lehrkräfte haben in der Folge immer weniger Artenkenntnis, und Expertinnen und Experten für die verschiedenen Organismengruppen werden immer weniger.

Noch werden an der Universität Wien Bestimmungskurse, Exkursionen und Feldkurse angeboten, auch für die Didaktik im Freiland. Jedoch hat die Zahl der Naturerfahrungen und der Arbeit mit lebenden Tieren oder Pflanzen im Biologieunterricht in den letzten zehn Jahren dramatisch abgenommen. Auch Eltern oder Großeltern sorgen kaum noch für Naturerlebnisse. Dabei ist seit langem bewiesen, dass erkundende Naturerfahrungen und das Wissen über Arten stark mit Wertschätzung der Natur und der Handlungsbereitschaft, diese zu schützen, korrelieren. Wir schützen eben nur, was wir kennen.

Was muss die Politik tun?

Das österreichische Parlament ratifizierte bereits 1994 das "Übereinkommen über die biologische Vielfalt", die mit "im Bewusstsein des Eigenwertes der biologischen Vielfalt" beginnt. 2014 wurde die Biodiversitätsstrategie Österreich 2020+ veröffentlicht. Das erste Handlungsfeld war: "Biodiversität kennen und anerkennen". Darunter sind die Ziele "Bedeutung der Biodiversität ist von der Gesellschaft anerkannt" und "Biodiversitätsforschung und Biodiversitätsmonitoring sind ausgebaut" formuliert. Seit damals ist wenig passiert, doch 2020 beginnt in wenigen Wochen. Wir wissen also seit Jahren, was zu tun ist. Wir müssen nur endlich in größter Dringlichkeit beginnen, es umzusetzen.

Was kann jeder Einzelne tun?

Setzen Sie Ihre Kinder oder Enkelkinder nicht vor den "digitalen Schnuller". Nehmen Sie sich die Zeit und gehen Sie mit Ihnen in die Natur. Naturerfahrungen zwischen dem fünften und zwölften Lebensjahr sind besonders wirkungsvoll. Schaffen Sie Naturerlebnisse, originale Begegnungen mit Pflanzen und Tieren, oder nutzen Sie Angebote von Umweltschutzverbänden. Hinterfragen Sie den Biologieunterricht an Schulen: Findet Naturvermittlung statt?

Jeder kann sich für den Erhalt unserer Natur einsetzen: Weniger "Ordnung" im eigenen Garten bedeutet mehr Lebensraum für Wildbienen, Vögel und Igel! Sie als Verbraucher haben es in der Hand: Verzichten Sie auf Pestizide. Kaufen Sie keine Torferde, um Moore als Lebensraum zu schützen. Schaffen oder unterstützen Sie "Naturinseln" auf versiegelten Flächen – schon eine begrünte Baumscheibe in der Stadt kann einen Lebensraum bieten und einen Naturerlebnisraum für Menschen schaffen. Also: Konsumieren Sie bewusst, und werden Sie im Sinne des Naturschutzes politisch, indem Sie Politiker und Entscheidungsträger direkt konfrontieren und Missstände deutlich ansprechen. (Barbara Gereben-Krenn, Andrea Möller, 4.11.2019)