Ein Exemplar des Wasserflohs Daphnia pulex unter dem Mikroskop. Das Weibchen trägt die Eier in einer Brutkammer am Rücken, aus der die fertigen Nachkommen schlüpfen.
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Wasserflöhe lassen die Herzen vieler Biologen höher schlagen, denn sie sind wahre Meister in Sachen Anpassung. Anders als der Name es vermuten lässt, sind Wasserflöhe keine Insekten, sondern Krebse. Sie besiedeln Seen, Teiche und selbst Felstümpel auf dem ganzen Planeten.

Legendär ist die Art und Weise ihrer Fortpflanzung: Bei guten Umweltbedingungen, etwa ausreichender Nahrung, vermehren sich Wasserfloh-Weibchen asexuell durch Jungfernzeugung: Sie produzieren Eier, aus denen genetisch identische Töchter schlüpfen – natürliche Klone der Mutter. Entsteht eine Mangelsituation durch wenig Nahrung oder sinkendem Wasserspiegel, setzen die Weibchen auf Sex: Sie produzieren nun Töchter und Söhne, die die Eier der nachfolgenden Wasserflohgeneration befruchten.

Kein männlicher Nachwuchs

Schon lange gibt der komplexe Fortpflanzungszyklus der Minikrebse Evolutionsbiologen Rätsel auf, nun kommt ein weiteres hinzu: In der Fachzeitschrift PNAS berichten Forscher von einer neuentdeckten Vermehrungsvariante. "In manchen Populationen existieren auch Weibchen, die gar keine Söhne hervorbringen", erklärt Michael Lynch, Direktor des Biodesign Center for Mechanisms of Evolution der Arizona State University.

Mit Wasserflöhen ist im Allgemeinen die Gattung Daphnia mit rund 200 Arten gemeint. Besonders gut untersucht und in der Forschung ein beliebter Modellorganismus ist Daphnia pulex. Die etwa drei Millimeter kleinen Tiere offenbaren ihr niedliches Aussehen erst unter dem Mikroskop: rundlicher Körper, große Augen und lange Borstenantennen, mit denen sie sich fortbewegen. Weibchen tragen ihre Eier in einer Brutkammer am Rücken, aus der die fertigen Miniatur-Daphnien schlüpfen. Bei guten Bedingungen verläuft die Entwicklung sehr schnell, sodass es zu Massenvermehrungen kommen kann.

Ein einziges Paarungsgen

Um die genetische Ursache der Produktion von Männchen beziehungsweise deren Nichtproduktion zu finden, nahmen Lynch und seine Kollegen das Erbgut der Tierchen unter die Lupe. Durch den Erbgutvergleich von Daph nien, die Weibchen und Männchen produzieren, mit solchen, die nur Weibchen produzieren (None Male Producing = NMP), konnten Lynch und seine Kollegen fünf genetische Varianten identifizieren, die ausschließlich bei NMP-Krebsen vorkommen: Alle fünf Varianten finden sich in einem einzelnen Gen namens 8960. "Das bedeutet, dass die Änderung im Paarungssystem durch ein einzelnes Gen hervorgerufen worden sein könnte", sagt Lynch.

Doch wie lässt sich die neu entdeckte Fortpflanzungsstrategie evolutionsbiologisch einordnen? "Ein Vorteil, keine Männchen zu produzieren, hängt mit den möglichen negativen Konsequenzen von Inzucht zusammen", sagt der Biologe Markus Möst von der Universität Innsbruck, der selbst an den Tieren forscht. Eine Daphnien-Population, auch als Klon bezeichnet, die sowohl Männchen als auch Weibchen produziert, läuft Gefahr, dass sich die Weibchen mit Männchen desselben Klons paaren. Das aber kann zu genetischen Fehlern führen. Einem Klon, der keine Männchen produziert, kann das nicht passieren. Denn die Weibchen werden zwangsläufig von Männchen anderer Klone begattet, wodurch Inzucht verhindert wird.

Die Kosten von Sex

"Die Evolution von Sex ist nach wie vor eine komplexe und zen trale Frage der Evolutionsbiologie, und Daphnien sind dafür ein exzellenter Studienorganismus", so Möst. Die gängige Erklärung lautet folgendermaßen: Sex hat den Nachteil, dass Männchen produziert werden müssen, die selbst keine Nachkommen gebären können. "Damit halbiert sich die Pro-Kopf-Geburtenrate einer sexuellen Population im Vergleich zu einer asexuellen Population, was auch als ‚the two-fold cost of sex‘ bekannt ist" erläutert Möst.

Sex kompensiert diese Kosten mit einem großen Vorteil: der Rekombination des Erbmaterials von Vater und Mutter. Die neu entstehende genetische Variation kann bei sich ändernden Umweltbedingungen oder bei der Abwehr von Parasiten einen Vorteil bieten und das Überleben sichern. Außerdem eliminiert die Durchmischung des Erbmaterials so manche schädliche Mutation. Diese Vorteile gelten im Übrigen für alle Arten, die sich sexuell fortpflanzen.

Jahrhundertealte Eier

"Die sexuelle Reproduktion bei Daphnien hat aber auch eine ökologische Bedeutung", sagt Klaus Schwenk, Leiter der Arbeitsgruppe für Molekulare Ökologie an der Universität Landau. "Denn bei der sexuellen Fortpflanzung entstehen auch Dauereier." Diese Dauereier umgibt eine äußerst robuste Haut, das sogenannte Ephippium, wodurch sie Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte überdauern können. Ein Teil der Eier sinkt zu Boden und verharrt im Seesediment. Die anderen Eier gelangen an die Wasseroberfläche, wo sie mithilfe von Vögeln oder Fröschen weitertransportiert werden. "Mithilfe von Dauereiern überleben Wasserflöhe also ungünstige Umweltbedingungen oder migrieren zu anderen Gewässern", sagt Schwenk.

Forschern bieten die robusten Eier einmalige Einblicke, da sie im Labor auch nach Jahrzehnten wieder zum Leben erweckt werden können: "Durch die Analyse von Dauereiern können wir evolutive Prozesse rekonstruieren, etwa Anpassungen an den Klimawandel", erklärt Schwenk.

Reaktion auf Klimawandel

Da Wasserflöhe sehr empfindlich auf sich ändernde Umweltbedingungen reagieren, sind sie auch aus der ökologischen Forschung nicht wegzudenken: "Wahrscheinlich gibt es kein anderes Tier, das häufiger Gegenstand ökologischer Studien war als Daphnien", sagt Michael Lynch. Sie sind Hauptalgenfresser und selbst eine wichtige Futterquelle für Fische. Ihr Fehlen kann somit drastische Konsequenzen für aquatische Ökosysteme haben. Indem Wissenschafter testen, wie Daphnien auf Industrieabwässer, Algenblüten und hohe Wassertemperaturen reagieren, erfahren sie, wie Umweltveränderungen wirken, die durch Landwirtschaft oder Klimawandel hervorgerufen werden.

In einem nächsten Schritt möchte Lynch mithilfe der Genschere CRISPR das Gen 8960 gezielt verändern und die Auswirkungen auf die Fortpflanzung der Wasserflöhe testen. Die Ergebnisse könnten eines Tages praktische Anwendung in der Schädlingsbekämpfung finden – etwa wenn man etwa einen Weg fände, die Bildung von Insektenmännchen zu unterbinden. (Juliette Irmer, 4.11.2019)