Touristen warten rund um die Kapelle, die sogenannte Ädikula, auf den Zugang zum Grab Jesu.

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Ach ja, die Holzleiter. Pater Athanasius atmet tief durch. In seiner braunen Mönchskutte steht er vor dem Eingang der Grabeskirche in Jerusalem, es ist kurz nach zehn am Morgen. Es ist heiß, er schwitzt. Und jetzt soll er auch noch erzählen, was es mit dieser alten Leiter mehrere Meter oberhalb des Eingangs auf sich hat. Pater Athanasius, der aus Texas stammt, hatte gehofft, dem Thema zu entkommen. Schließlich sei das nur Folklore. Doch es hilft nichts: "Diese Leiter hat heute keine Funktion mehr", erklärt er dann. Sie gehöre den Armeniern, und die ließen sie seit mehr als 150 Jahren als Zeichen ihrer Souveränität über jenem Gebäudebereich stehen. "Eigentlich müsste sie entfernt werden."

Schon vor dem Eingang wird deutlich, dass die Dinge in diesem Gotteshaus, einem der wichtigsten Heiligtümer der Christenheit, kompliziert sind. Ärger und Frust bleiben da nicht aus. Es kam schon zu Schlägereien unter Mönchen, manches Mal gingen sie mit Besen aufeinander los, auch die Polizei musste bereits einschreiten.

Äthiopier auf dem Dach

Sechs christliche Konfessionen teilen sich das verschachtelte Bauwerk mit seinen vielen Stufen und Kapellen. Nach der Zerstörung durch den Fatimiden-Kalifen im Jahr 1009 wurde die Kirche von den Kreuzfahrern wieder aufgebaut. Nach einem Brand 1808 wurde sie restauriert. Alle sechs Glaubensgruppen beanspruchen hier bestimmte Bereiche. Die drei größten – die Franziskaner, die Griechisch-Orthodoxen und die Armenier – haben hier gar ihre eigenen Wohnräume. Die Kopten und die Syrisch-Orthodoxen haben Altäre und Kapellen, die Äthiopier leben auf dem Dach.

Alle wollen sie diesem heiligen Ort, an dem der Überlieferung nach Jesus gekreuzigt wurde und begraben liegt, möglichst nahe sein. Am liebsten ein bisschen näher als die anderen.

Das führt zu Streitereien, von jeher. Darum auch die Leiter am Fenster: Sie diente laut einer Überlieferung einst den Armeniern, um die Kirche über den Balkon zu verlassen. Denn die Treppe im Inneren beanspruchten die Griechen – und die ließen die Armenier nicht passieren.

Zuständigkeiten 1852 festgelegt

Um Ärger wie diesen zu beenden, wurde 1852 der Status quo festgelegt: Die Zuständigkeiten gelten bis heute und dürfen nur unter Zustimmung aller vertretenen Kirchen verändert werden. Festgelegt ist seither, wann welche Konfession Gottesdienst feiern darf und dass sich die Griechisch-Orthodoxen um die Reinigung des Vorhofs und der Toiletten kümmern.

Ihnen gehört auch das Katholikon, das Hauptschiff der Kirche, das nach dem Brand 1808 ummauert wurde. Was nicht allen gefällt. "Sie nimmt viel Licht weg", sagt Pater Athanasius. Doch am Status quo kann nicht gerüttelt werden.

Dieser hat so einige Probleme gelöst. Seither dürfen die Armenier beispielsweise auch die Treppen der Griechen wieder betreten – die Leiter am Fenster wurde obsolet. Doch wie kommt es, dass diese nach mehr als 150 Jahren nicht verrottet ist? Ein Wunder? Oder eher ein Zeichen, dass sie hin und wieder ausgetauscht wird? Das bleibt ein gut gehütetes Geheimnis.

"Mit Logik hat das nichts zu tun"

Streitereien bleiben aber bis heute nicht aus. Zum Beispiel darüber, dass bei der Prozession der Armenier am Grab Jesu laut Status quo stets ein Vertreter der Griechen anwesend sein muss. "Mit Logik hat das ja alles nichts zu tun", erklärt Pater Athanasius, der für die Franziskaner die Abmachungen überwacht.

Als die Armenier einmal ohne die Griechen mit der Zeremonie beginnen wollten, kam es zu einer Schlägerei, die Polizei musste eingreifen. "Diese Kirche gleicht einem Ökosystem. Selbst die kleinste Veränderung bringt alles ins Ungleichgewicht", sagt Pater Athanasius. Denn Empfindsamkeiten sind an diesem heiligen Ort, der seit dem vierten Jahrhundert Pilger aus aller Welt anzieht, besonders hoch. Jeder hat Angst Macht und Zugang zu verlieren. Pater Athanasius aber betont immer wieder, dass man sich sonst gut verstehe. In 98 Prozent aller Fälle, die es zu besprechen gilt, werde man sich einig.

Am Eingang der Grabeskirche hat Türsteher Wajih Nusseibeh ein ganz anderes Problem: eine junge Frau mit sehr knappen Hosen. Nusseibeh, ein kleiner Mann mit weißen Haaren, Schnurrbart und strengem Blick sitzt auf einer Holzbank direkt am Eingang der Kirche und ruft barsch: "Hello, hello, no shorts." Die Frau verdreht die Augen, rupft wütend ein langes Tuch aus dem Rucksack, wickelt es um die Hüften und fragt pampig: "Besser so?"

Wajih Nusseibeh lässt das kalt. Sein Blick bleibt kühl, seine Augen folgen weiter den reinströmenden Besuchermassen. Männer fordert er auf, ihre Sonnenhüte und Baseballcaps vom Kopf zu nehmen. "Früher sind die Leute hier auf allen vieren reingekrochen, vor lauter Ehrfurcht", sagt er. "Heute kommen sie und wollen überall nur noch Bilder machen. Oder stehen rum und starren auf ihre Handys."

Familientradition am Eingang

Der 69-Jährige kennt sich aus. Er sorgt für Ordnung und ist verantwortlich dafür, dass die Tore morgens geöffnet und abends geschlossen werden – wie vor ihm schon sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater. Wie weit die Tradition zurückreicht, ist nicht genau belegt. Die muslimische Familie Nusseibeh soll schon im Jahr 637 damit beauftragt worden sein, um Zwist am Eingang unter den Christen zu vermeiden.

Wie viele Touristen diese Tore täglich passieren? 1.000, schätzt Nusseibeh. Jedenfalls werden es immer mehr. Das bekommen auch die Kirchenvertreter wie Pater Athanasius zu spüren: "Viele der Tourguides beschweren sich über die langen Wartezeiten am Grab."

Heute scheucht ein mürrischer Grieche die Besucher zum Grab – und nach wenigen Sekunden wieder hinaus. "Genug jetzt, raus da", zischt er. Auch in der Grabeskirche, in der die Zeit scheinbar stehengeblieben ist und Veränderungen nur sehr langsam vonstattengehen, muss es manchmal schnell gehen. (Lissy Kaufmann, 30.10.2019)