Im Gastkommentar appelliert Bildungsexperte Karl Heinz Gruber an Grünen-Chef Werner Kogler, die Bildungspolitik zur unabdingbaren Voraussetzung für eine türkis-grüne Koalition zu machen.

Man kann davon ausgehen, dass sich Werner Kogler bei den Sondierungsgesprächen mit Sebastian Kurz und erst recht bei etwaigen Koalitionsverhandlungen nicht mit ein paar vagen türkisen Absichtsbekundungen zum Klimawandel abspeisen lassen wird; als Schutzpatron des Umweltschutzes wird von ihm nicht weniger als die Rettung des schrumpfenden Dachsteingletschers, des austrocknenden Zicksees und des von den steigenden Temperaturen bedrohten Grünen Veltliners erwartet. Auch bei der Bekämpfung von Armut, der Parteienfinanzierung und den Menschenrechten dürfte seine grüne Handschrift deutlich sichtbar werden.

Wie aber hält es Kogler mit der "grünen Schule"? Bildungspolitik ist im Wahlkampf und bei den Kogler'schen Medienauftritten seither so gut wie nicht vorgekommen. Wird es ihm gelingen, Kurz davon zu überzeugen, dass die zu frühe schulische Auslese für das Schulsystem so schädlich ist wie das CO2 für die Umwelt? Kogler sollte sich nicht mit dem seit Jahrzehnten gebetsmühlenartig vorgebrachten Bekenntnis der ÖVP zur Langform des Gymnasiums abspeisen lassen, sondern von Kurz und Co verlangen, ihr Beharren auf der AHS-Auslese ab der vierten (häufig schon ab der dritten) Volksschulklasse mit glaubwürdigen Argumenten und objektiven sozialwissenschaftlichen Daten zu begründen – oder aufzugeben.

Wird Werner Kogler der Schutzpatron des bildungspolitischen Klimas in Österreich? Die ÖVP sollte sich jedenfalls von ihrer alten Schulpolitik verabschieden.
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Fragwürdige Auslese

Eine evidenzbasierte Begründung ist allerdings nicht zu schaffen, denn es gibt keine wissenschaftlichen Daten zur Verlässlichkeit der Auslese für das Gymnasium im Alter von zehn Jahren, weil sich die Interessen- und Begabungsstruktur bis zum Abschluss der Pubertät wandelt.

Die OECD-Forschungsbefunde und die bildungssoziologischen Daten der nationalen Bildungsberichte sind eindeutig: Je früher die schulische Segregation erfolgt, desto stärker benachteiligt sie Kinder aus bildungsfernen oder migrantischen Familien und desto stärker verringert sie die Chancen auf soziale Integration.

Ausleseschulsysteme wie das österreichische sind nicht nur außerstande, das Begabungspotenzial der Bevölkerung angemessen zu mobilisieren, die Zweigliedrigkeit der Sekundarstufe I macht einen sparsamen Einsatz von Personal, Schulgebäuden und Ressourcen so gut wie unmöglich. Österreich hat eines der teuersten Schulsysteme von allen OECD-Ländern, ohne dafür eine besonders große Gruppe von hochleistungsfähigen Schülern hervorzubringen und ohne zu verhindern, dass ein alarmierend großer Prozentsatz von Schülern die Schule ohne elementare Mindestkompetenzen verlässt.

Am sinnvollsten wäre eine achtjährige gemeinsame Schule mit möglichst viel Differenzierung und individuellen Wahlmöglichkeiten auf der Sekundarstufe I, und nach der Zäsur mit 14 Jahren für alle Kinder die organisatorische Differenzierung in eine Vielfalt von weiterführenden Schullaufbahnen.

Drei Forderungen

Kogler könnte Kurz an den Spruch des Alt-ÖVPlers Andreas Khol erinnern, der einmal gemeint hat, nichts könne ihn – oder die ÖVP? – daran hindern, täglich klüger zu werden. Eine türkis-grüne Koalition wäre für Kurz ein eleganter Anlass, sich – ohne Heinz-Christian Strache im Nacken – von der vordemokratischen Härte und der postdemokratischen Kälte der alten ÖVP-Schulpolitik zu verabschieden. Es gäbe drei Forderungen, mit denen Kogler "sondieren" könnte, wie es um die Lernbereitschaft der ÖVP steht und ob sich aus bildungspolitischer Sicht eine Koalition mit ihr rechtfertigen lässt:

Erstens die Einrichtung einer Taskforce, deren Hauptaufgabe es wäre, die Feindseligkeiten des türkis-blauen Schulpakets wie Sitzenbleiben, Segregieren, Notenterror zu beseitigen und für eine Verbesserung des Feel-good-Faktors im Schulsystem zu sorgen. Das Papier zur "grünen Schule" bietet einen ausgezeichneten Einstieg dazu. Kurz sollte mit so einem Thinktank kein Problem haben, hat er sich doch als Bundeskanzler mit Think Austria selber einen solchen zugelegt. (Dieser hat allerdings, wie es scheint, nicht viel "gethinkt", aber viel gekostet und wurde vor einigen Monaten sang-, klang- und ergebnislos aufgelöst).

Zweitens das Designieren des Landes Vorarlberg zur Modellregion einer gemeinsamen Schule der Zehn- bis 14-Jährigen. Als die Grünen im Jahr 2017 von der damaligen SPÖ-ÖVP-Koalition für die erforderliche Zweidrittelmehrheit gebraucht wurden, gestand man ihnen die Etablierung von Modellregionen zu, die allerdings von Türkis-Blau ein halbes Jahr später nicht einmal ignoriert wurden. Das Land Vorarlberg hat von einem Expertenteam ein wohlüberlegtes Reformkonzept erstellen lassen, das infolge der alemannischen Neigung zu Rationalität und Effizienz weithin Akzeptanz gefunden hat (und auf der Agenda der Koalitionsverhandlungen im Ländle stehen sollte).

Notwendige Versachlichung

Drittens eine OECD-Länderprüfung des österreichischen Schulsystems mit besonderem Schwerpunkt auf der Organisation der Sekundarstufe I. Wer angesichts dieser Forderung ein Déjà-vu hat, der täuscht sich nicht: Im Oktober 2017 hat der damalige grüne Bildungssprecher Harald Walser (Vorarlberger, was sonst) im Parlament einen wohlbegründeten Entschließungsantrag zu einer Betriebsprüfung des österreichischen Schulsystems durch ein internationales OECD-Expertenteam eingebracht; er scheiterte an der für den Schulreformdiskurs typischen Mischung aus Dumpfheit, Kleinkariertheit, Gehässigkeit und Realitätsverweigerung. In mehreren Ländern, darunter Dänemark und Schweden, haben kritische OECD-Reviews bemerkenswerte Kurskorrekturen in der Schulentwicklung ausgelöst.

Wenn Kogler auch Schutzpatron des bildungspolitischen Klimas in Österreich werden möchte, sollte er diese drei Maßnahmen zur Entkrampfung, Entpolarisierung und Versachlichung der österreichischen Bildungspolitik zu unabdingbaren Voraussetzungen für eine etwaige türkis-grüne Koalition erklären. (Karl Heinz Gruber, 31.10.2019)