Der Kürbis als Symbol von Halloween war ursprünglich eine Rübe. Irische Einwanderer brachten den Brauch in die USA und griffen dort notgedrungen auf Kürbisse zurück.

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Heute schon einen Kürbis ausgeschnitzt oder die Halloweenparty geplant? Morgen ein gemeinschaftlicher Gang zum Friedhof oder gar in die Kirche? Oder zumindest ein festliches Mahl mit Familie und Freunden? Nein, nichts davon? Dann sind Sie in bester Gesellschaft und geben nicht viel auf die Kulturform des Rituals. Dieses, warnen manche, sei bedroht und werde in allen Bereichen der Gesellschaft zurückgedrängt. Übertrieben? Kann sein, es lohnt dennoch ein genauerer Blick.

Seit in den 1990er-Jahren das Halloweenfest als böser Export des US-Kulturimperialismus über die wehrlose Alpenrepublik hergefallen ist, hat es sich zwar zweifellos im rituellen Jahresgeschehen festgekrallt, gerade die Jubelmeldungen der Wirtschaft über Rekordumsätze zeugen davon. Und doch scheint es, als bliebe es nur auf der Oberfläche des Konsums haften, als dringe es nicht tiefer vor in den Ritenreichtum der Gesellschaft. Vom abnehmenden Interesse an kirchlichen Festen muss hier nicht die Rede sein, das ist vielfach verbrieft.

Der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han findet in seinem neuen scharfsinnigen Essay "Vom Verschwinden der Rituale" aber auch profane Indizien, die die These stärken: Er beklagt den Abbau von zwischenmenschlichen Höflichkeitsgesten, die einer als "authentisch" propagierten Kommunikation mit offenem Visier weichen; er identifiziert die zeitgenössischen Kunstmuseen im Gegensatz zu ihren üppigen barocken Vorgängern als schmucklose und damit ritualfeindliche leere Hüllen; er beobachtet die Zurückdrängung von Zeremoniell und Ritus auch an den Universitäten – Zepter, Siegel, Doktorhüte, Amtsketten und Talare würden abgeschafft: "Die Universität als Unternehmen mit seinen Kunden bedarf keiner Rituale. Rituale vertragen sich nicht mit Arbeit und Produktion", schreibt Han und macht folglich die fortschreitende Vereinzelung und Rationalisierung im Neoliberalismus für die Misere verantwortlich.

Was aber ist nun das Ritual? Welche Funktion erfüllt es, und warum sollten wir es brauchen?

Rituale markieren Abschlüsse

Das symbolisch wirkmächtige Ritual unterscheidet sich vom banalen, sich wiederholenden Alltagsvorgang wie Zähneputzen und Schuhbänderbinden durch seine gemeinschaftsstiftende Funktion. Es stabilisiert das Leben, hält es für den Moment an, lädt ein zum Verweilen. "Rituale bringen Gemeinschaft ohne Kommunikation hervor", schreibt Han, wohingegen heute überall "Kommunikation ohne Gemeinschaft" vorherrsche. Das Smartphone etwa sei als permanent unter Strom stehender Unruheherd stärkster Widersacher jeder Ritualbildung, der Neoliberalismus forciere "die serielle Wahrnehmung" und schaffe "die Dauer ab, um mehr Konsum zu erzwingen".

Die Entgrenzung in der heutigen Arbeitswelt führe zum permanenten Produktionszwang, auch im Privaten, meint Han: Selfies, Social-Media-Kommunikation in Echokammern, "freiwillige" Selbstausbeutung im Zwölfstundentag. Ohne Rituale fehlt es dem Leben an Abschlüssen und damit an jenem dankbaren Gefühl, etwas wirklich vollendet, etwas hinter sich gelassen zu haben.

Halloween und Allerheiligen markieren verlässlich solche Abschlüsse. Allein deswegen sollte man sie hochhalten wie Silvester, die Weihnachtstage oder den eigenen Geburtstag. Bei seiner Kritik am Event als bedeutungslose Form des Konsums muss man Byung-Chul Han nicht folgen – zu sehr verengt sich sein Denken zuweilen auf religiöse Komponenten. Denn auch im jährlich wiederkehrenden Besuch von Festivals, Konzerten oder Partys kann Gemeinschaft und "Intensität", wie Han sie fordert, erlebt werden.

Kompensation des Faschings

Halloween jedenfalls erfüllt alle Voraussetzungen, sich im Ritualreigen Mitteleuropas langfristig breitzumachen. Als Fest der Kostümierung kompensiert es die schwindende Popularität des Faschings – ja, es setzt bei der im Karneval gewollten Umkehrung der Machtverhältnisse sogar noch eines drauf: Verlacht wird nämlich nicht nur die weltliche Obrigkeit, sondern sogar der Tod.

Traditionalisten, die im ausgelassenen "Trick or treat"-Fest vor allem Störung der Allerheiligen-Ruhe sehen, sollten sich entspannen. Als uralter Brauch katholischer Iren steckt in Halloween eine Menge Christentum – der rituelle Sturm vor der Ruhe ist etwa vergleichbar dem Faschingsdienstag-Aschermittwoch-Reigen, der ähnlicher Logik folgt. Als Fest des jahreszeitlichen Übergangs erinnert Halloween außerdem an heidnisches Brauchtum. Dem Christentum, das mit seiner Heiligenverehrung ohnehin Polytheismus über die Hintertür übt, kann das gar nicht so fremd sein.

Die Empfehlung: ausgelassenes Feiern am 31. Oktober, stilles Gedenken am 1. November, bestenfalls noch mit ordentlich Schädelweh – das ist doch das vollste Wechselbad der Gefühle, das Festtage uns bieten können. (Stefan Weiss, 31.10.2019)