Im Gastkommentar mahnt der ehemalige "Economist"-Chefredakteur Bill Emmott am Beispiel des Brexits, dass das größte Problem der Europäischen Union nicht euroskeptische Feindseligkeit, sondern Gleichgültigkeit ist.

In einer weiteren bizarren Volte der Brexit-Saga hat das Parlament des Vereinigten Königreichs seine Zustimmung zum Austrittsabkommen von Premierminister Boris Johnson mit der Europäischen Union signalisiert, gleichzeitig aber auch entschieden, dass es einer Neuwahl am 12. Dezember bedarf, bevor der Deal schlussendlich ratifiziert werden kann. Spitzenpolitikern der EU sei in diesem Fall ein ironisches Lächeln verziehen. Auch wenn Johnsons Pro-Brexit-Konservative in den Meinungsumfragen einen eindrucksvollen Vorsprung im beginnenden Wahlkampf haben, zeigen die Umfragen auch auf, dass eine klare Mehrheit der britischen Wähler – und zwar eine größere als jene, die beim Referendum 2016 für den Austritt stimmte – für einen Verbleib Großbritanniens in der EU ist.

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EU kein Thema

Dennoch mögen die EU-Spitzen ihr Lächeln kontrollieren. Denn das größte Problem der EU ist nicht euroskeptische Feindseligkeit, sondern vielmehr Gleichgültigkeit. Umfragen, die vor dem Referendum gemacht wurden, zeigen, dass es eine Mehrheit für den Verbleib in der Union gab, die EU den meisten Briten aber weitgehend egal war. Die Frage nach der Mitgliedschaft Großbritanniens war für die meisten Menschen schlicht kein prioritäres Thema. Es wurde angenommen, dass die Wähler die weniger riskante Option – den EU-Verbleib – wählen würden. Tatsächlich hat ihre Indifferenz einen anderen Ausgang der Volksabstimmung ermöglicht.

In der Folge hatten Zufälle oder die Rhetorik der entgegengesetzten Seiten der Kampagnen das Potenzial, das Pendel auf die jeweilige Seite ausschlagen zu lassen. Aufgrund der Medienbilder von Massenmigration und Flüchtlingsströmen über das Mittelmeer und den Balkan im Jahr 2016 wurde Immigration zum Referendum hin ein außergewöhnlich starkes Thema. Für die "Leave"-Kampagne war das Versagen der EU im Management der Krise ein Segen.

Ein Ozean von Apathie

Dennoch, wenn zukünftige Historiker auf diese Episode zurückblicken, dann werden sie wahrscheinlich daraus schließen, dass es einen Ozean von Apathie gab zwischen den beiden Küsten mit Hardcore-Gläubigen auf der jeweils anderen Seite der europäischen Frage. Großbritannien war immer schon ein halb widerwilliges EU-Mitgliedsland, und so hat es nicht viel gebraucht, um die Balance leicht in Richtung der Austrittswilligen kippen zu lassen. Der Schlüsselmoment trat ein, als Premierminister David Cameron, getrieben von politischen Dynamiken innerhalb der konservativen Partei, die schicksalhafte Entscheidung traf, ein Referendum in der Sache anzusetzen. Und zwar akkurat in einer Zeit des ökonomischen und politischen Stresses, der der globalen Finanzkrise nach 2008 folgte.

Seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (der Vorgängerin der EU) anno 1957 pflegten die Briten einen einigermaßen distanzierten und zuweilen sogar herablassenden Blick auf die europäische Integration. Das blieb auch mit dem Eintritt des Vereinigten Königreichs in den Block im Jahr 1973 der Fall – sogar nachdem eine große Mehrheit der britischen Wähler die EU-Mitgliedschaft 1975 in einem Referendum gutgeheißen hatte. Für die Briten bedeutete, ein Teil von Europa zu sein, ein Tauschgeschäft zu machen, und keine Liebesheirat. Im Gegensatz dazu hatten jene Länder, die am meisten unter zwei Weltkriegen und der deutschen Besatzung gelitten hatten (Frankreich, die Niederlande, Belgien und Italien) stets tiefere und sentimentalere Gründe gehabt, die EU zu unterstützen. Das Gespenst des Krieges hat einen prominenten Platz in der kollektiven Erinnerung dieser Länder, auch in den bereits in Friedenszeiten geborenen Generationen.

Aber auch die Verpflichtung auf das europäische Projekt in Kontinentaleuropa sollte nicht als gottgegeben angesehen werden. In diesem Monat hat der Thinktank "Friends of Europe" eine Meinungsumfrage veröffentlicht, die auf Interviews mit 12.000 Personen in allen 28 EU-Ländern basiert. Darin sagen 60 Prozent der Befragten, sie seien "nicht sicher, ob sie die EU vermissen würden, wenn diese nicht mehr da wäre". Dieser Befund sollte den Spitzen der EU einen kalten Schauer über den Rücken laufen lassen.

Bedenkliche Umfragen

Wie vorherzusehen liegt der Anteil der Briten, die nicht sicher sind, ob sie die EU vermissen würden, bei 63 Prozent. Aber erschütternde 72 Prozent der befragten Franzosen sehen es ebenso, wie auch 67 Prozent der Italiener und 60 Prozent der Deutschen. Diese Daten zeigen, dass es das größte Problem der EU ist, dass sie ihre Bürger als gegeben ansehen und nicht besonders darüber besorgt sind, ob sie als solche vorankommt oder zerbricht.

Dieses Problem mag ein Kommunikationsversagen sein. Denn eine supranationale bürokratische Entität, die aus einem endlosen Arrangement von Direktoraten, Agenturen und Komitees besteht, wird es immer schwer haben, geliebt zu werden oder eben auch nur zu erklären, was sie tut und warum sie existiert. Das größere Problem aber ist, dass die EU damit kämpft, schnelle, klare und ambitionierte Entscheidungen zu treffen. Es ist für sie viel leichter, Nein zu sagen als Ja. Sie ist viel besser darin, Konflikte zwischen Mitgliedern zu überdecken, als kollektiv zu handeln für klar definierte gemeinsame Ziele.

Der Euro als großer Moment

Das war nicht immer der Fall. Die Einführung des Euro 1999 war ein klarer und epochaler Moment, der einer großen politischen Entscheidung folgte und der Implementierung vieler technischer Maßnahmen. Seither aber haben sich die Dinge nicht besonders gut entwickelt, wenn es um die Themen geht, die einfache Wähler heute am meisten interessieren: die Fähigkeit der Eurozone, Jobs zu schaffen und einen Anstieg des Lebensstandards zu sichern. Heute löst der Euro zurückhaltende Akzeptanz aus, nicht Begeisterung und Überzeugung.

Der Slogan des berühmten britischen Special Air Service ist: "Wer wagt, gewinnt." Im Fall des Brexits könnte man dieses Motto adaptieren und sagen: "Wer sich sorgt, gewinnt." Im Vorfeld des Referendums 2016 haben die proeuropäischen Kräfte in Großbritannien versagt, als es darum ging, die Briten sich um die EU-Mitgliedschaft sorgen zu lassen. Das ändert sich vielleicht im Wahlkampf für den Urnengang im Dezember, wiewohl es riskant wäre, darauf zu wetten. EU-Proponenten in der gesamten Union sollten zur Kenntnis nehmen, dass Indifferenz ihr größter Feind ist. (Bill Emmott, Übersetzung aus dem Englischen: Christoph Prantner, Copyright: Project Syndicate, 31.10.2019)