Wie wäre es, wenn wir Möbelstücke oder gleich ein komplettes Design zur Umgestaltung unseres Interieurs einfach aus dem Internet laden und sofort ausprobieren könnten? Vielleicht sieht so die nächste Steigerungsstufe unseres Lebens "on demand" aus. Dass die neuesten Serienfolgen per Stream ins Haus kommen, sind wir ja bereits gewohnt. Doch auch abseits dessen nimmt die Zahl der Alltagsbereiche, die wir per Download oder über Bestelldienste organisieren, in atemberaubendem Tempo zu. Zumindest in städtischen Gebieten dauert es nur noch wenige Stunden, bis Elektronikgeräte, Bekleidung oder – hoffentlich noch schneller – das nächste Mittagessen vom gehetzten Boten direkt an die Wohnungstür gebracht werden.

Ein nächster möglicher Mega-Trend in der Verschaltung unserer Lebensgewohnheiten mit dem Internet zeichnet sich beim Wohnen ab: Wir könnten künftig "Wohn-Abos" kaufen, um unser Bedürfnis nach häufigem Ortswechsel zu stillen – oder einfach aus Neugierde und geschäftlichen Motiven heraus. In der Architektur und im Kontext gesellschaftsbezogener Kunst wird diese Idee gerade mit Hingabe diskutiert.

"Architektur besteht nicht mur aus gebauten Kuben", sagt Interface-Designerin Lucia Tahan. Mit ihrem Projekt "Cloud Housing" thematisiert sie das Wohnen unter den Bedingungen totaler Digitalisierung.
Foto: Dinko Verzi

Die junge Architektin und Interface-Designerin Lucia Tahan beschäftigt sich mit Umsetzung und möglichen Folgen solcher Ideen. Sie stellte jüngst ein mögliches Szenario künftigen Wohnens in der Online-Gesellschaft als Installation beim interdisziplinären Festival "Housing the Human" in Berlin vor. Die riesigen Hallen des einstigen Abwasserpumpwerks "Radialsystem" an der Spree hatten gerade die richtige Dimension für das Vorhaben: Flankiert von Medien- und Architekturtheoretikerinnen betrieb Tahan anhand ausgearbeiteter Prototypen angewandte Zukunftsforschung.

Abschied von der Küche

"Zwar handelt es sich bei meinem Projekt um eine interaktive Ausstellungssituation, die vom Publikum betreten wird wie eine Bühne; doch für mich ist das ein Konzentrat, um aktuelle Fragen der Architektur auf den Punkt zu bringen", erklärt Lucia Tahan. Mit ihrem Projekt "Cloud Housing" führt sie zunächst in ein gemütliches Wohnzimmer, doch dieses entpuppt sich rasch als Schnittfeld diverser Datenkreisläufe.

Die Designerin, 1989 in Madrid geboren, will kritisch reflektieren, wie sich Architektur und Design in einer digital vernetzten Welt heute räumlich erfahren und gestalten lassen. "Architektur besteht nicht nur aus gebauten Kuben", sagt die in Berlin lebende Spanierin. "Der Zusammenhang zur Digitaltechnologie liegt nicht bloß darin, dass sich die Planung von der Zeichnung auf den Bildschirm verlagert hat. Dies war lediglich zu Beginn so. Durch die Etablierung des Internets hat sich aber das gesamte Userverhalten geändert." Heute müsse man fragen, ob das nicht Konsequenzen auf Raumkonzepte habe. So stelle sich etwa die Frage, ob wir in allen Apartments und für alle Wohnsituationen große Küchen benötigen, wenn Essen in guter Qualität im Internet bestellt wird."

Tech-Konzerne als Immobilienhaie

Tahan kommt aus der Praxis. Schon in jungen Jahren hatte sie Erfolg bei Architekturwettbewerben, mit nur 26 Jahren plante und baute sie mit Kolleginnen in der spanischen Provinz Extremadura ihr erstes Einfamilienhaus. Sie zeigte ihr Werk auf renommierten Festivals und war selbst auf der Architektur-Biennale in Venedig vertreten. Heute entwirft sie Software für große Tech-Firmen und konzentriert sie sich auf die Frage, welche Folgen die Digitalisierung auf unser soziales Miteinander hat.

Ihr Projekt Cloud Housing dient der kritischen Auseinandersetzung mit dem Wohnen unter den Bedingungen totaler Digitalisierung. Es basiert auf der Fiktion, dass ein Tech-Konzern weite Teile des Immobilienmarktes übernommen hat und Wohnraum nach dem Abo-System anbietet. Während die Kundinnen und Kunden den Ort wechseln, entwickelt und lernt das Unternehmen aus den gespeicherten Datensätzen der User laufend Maßnahmen zur Optimierung. Ist das noch Innovation oder schon Kommerzialisierung? Oder gar Kontrolle? In welche Richtung der Zug fährt, lässt Tahan allerdings offen. Es sei jedenfalls wichtig, sich der Prozesse bewusst zu werden.

"Architektur besteht nicht nur aus gebauten Kuben", sagt Interface-Designerin Lucia Tahan. Mit ihrem Projekt "Cloud Housing" thematisiert sie das Wohnen unter den Bedingungen totaler Digitalisierung.
Foto: Camille Blake

Anweisungen von der Wand

In ihrer Installation wird das gemütliche Pop-up-Habitat bald gestört, als über einen Bildschirm an der Wand die Anweisung ertönt, man möge die gemieteten Haushaltsgeräte warten. Es folgt die Einladung, mehr Speicherplatz zu kaufen. Umgekehrt können die Bewohner per Tablet Dinge selbst in die Hand nehmen: Design kann gestaltet werden, indem auf täuschend echt wirkende Möbel geklickt wird, die per Augmented Reality virtuell im Raum platziert werden können.

Der Clou der Installation ist, dass sich die Welten auf dem Bildschirm per Kamerafunktion mit dem realen Raum verbinden wie in einem Ausschneidebogen. Mittlerweile funktionieren auch Stadtführer oder die Vermittlung in Museen auf diese Art. Längst ist etwa Ikea mit seiner Einrichtungs-App "Place" auf den Zug aufgesprungen. Damit lassen sich Möbelstücke direkt aus dem Katalog als virtuelle Objekte ins eigene Wohnzimmer transferieren.

Datenpakete für Architektur

"Meine Installation möchte aber genau das Gegenteil erreichen" wirft Lucia Tahan ein: Es gehe ihr nicht darum, Argumente für den Erwerb von Produkten zu liefern oder Kunden zum Kauf zu verführen. "Ich möchte das Publikum zum Nachdenken darüber einladen, wie sich unser gesamtes Userverhalten durch die Etablierung des Internets geändert hat." Denn: "Weder sind wir uns bewusst, welche Daten unserer Alltagsgewohnheiten im Hintergrund aufgezeichnet werden, noch wissen wir, in welche Richtung die Prozesse technologischer Optimierung laufen." Dazu gehören für sie jene Datensätze, die zwischen innen und außen hin- und herlaufen; und überhaupt alle digitalen Spuren, die wir im Zuge von Download-Vorgängen hinterlassen. Vor diesem Hintergrund plädiert Tahan eindringlich dafür, dass Architektur und Design heute anders verstanden werden.

Mit diesem Verständnis greift die Architektin im Grunde eine historische Auffassung von Gestaltung auf: Design bedeutete lange Zeit, etwas Schönes herzustellen, das einen bestimmten kulturellen Wert repräsentiert. Erst später kam die Idee von der Funktionalität auf. "Heute passiert der Fortschritt auf der Ebene digitaler Technologie. Hier freuen wir uns über jede Neuerung. Aber wir sind viel zu wenig daran gewöhnt, diese Entwicklungen sensibel und kritisch zu hinterfragen." (Roland Schöny, xy.11.2019)