Eine Bank: Magnus Carlsen.

Foto: imago/AFLOSPORT

Wien/Oslo – "Wenn es einen Titel gibt, dann will ich ihn haben" – so antwortet Magnus Carlsen auf die Frage, welchen Stellenwert er dem erstmals offiziell von der Fide vergebenen Titel des Fischer-Random-Chess-Weltmeisters beimisst. Nach dem Semifinale ist man geneigt, es dem in Interviews immer ein wenig abwesend wirkenden jungen Norweger zu glauben.

Denn an Tag zwei und drei des Duells mit Fabiano Caruana, immerhin Nummer zwei der Weltrangliste, lässt Carlsen seinem Gegner kaum mehr eine Chance. Was auf klassisches Schach zutrifft, scheint erst recht für Fischerschach zu gelten: Carlsen ist, unter Sterblichen, einfach der Bessere. Und die Anfangsstellungen ohne Eröffnungstheorie ermöglichen es dem Champion, diese generelle Überlegenheit gar in purifizierter Form aufs Brett zu bringen.

Aber der Reihe nach: Hatten am ersten Spieltag noch sowohl Caruana als auch Carlsen je eine langsame Rapid-Partie gewonnen, fuhr an Tag zwei nur der Weltmeister einen Sieg ein, die insgesamt vierte Partie endete unentschieden. Nach der Zählweise dieser WM, bei der die langsameren Partien stärker gewichtet werden, bescherte dies Carlsen bereits einen deutlichen 7,5:4,5-Vorsprung vor dem dritten und letzten Semifinaltag.

Schwarz gewinnt

Weil es bei Fischer Random ja nicht zuletzt um Abwechslung geht, wird in Oslo alle zwei Partien eine neue Anfangsstellung herbeigelost, mit der beide Kontrahenten dann je eine Weiß- und eine Schwarzpartie zu bestreiten haben. Nicht erst bei der laufenden WM zeigt sich, dass der Nachziehende in Bobby Fischers 960-fach multipliziertem Schachuniversum nicht unbedingt im Nachteil ist. An den ersten beiden Turniertagen standen im Match Carlsen vs. Caruana etwa drei Schwarzsiege und ein Remis zu Buche.

Magnus Carlsen hält das nicht für Zufall: "Im Gegensatz zum klassischen Schach wissen wir hier ja alle in der Eröffnung nicht, was eigentlich zu tun ist. Und mit Schwarz verfügt man zumindest über ein bisschen mehr Information", so der Weltmeister in Adaption einer avantgardistischen Theorie des rumänischen Schachtheoretikers Mihai Șubă. Der hatte schon vor Jahrzehnten argumentiert, dass sich auch in der Startposition des klassischen Schachs einzig der Nachziehende im Vorteil befinden könne, weil jeder weiße Zug naturgemäß einen Verlust an Flexibilität bedeutet.

Rochieren ist schwierig

Apropos Avantgarde: Tag drei des Semifinales beginnt mit einer ausgelosten Anfangsstellung, die einem erotischen Traum des Vorkämpfers der hypermodernen Schachschule, Richard Réti, entnommen scheint: Die Läufer stehen in den vier Ecken des Brettes, sind also quasi schon per Werkseinstellung fianchettiert. Jan Nepomnjaschtschi, der gegen Wesley So das zweite Semifinale bestreitet, agiert dann aber einen Hauch zu kakophonisch: Beim Versuch, kurz zu rochieren, greift der Russe beherzt zum Turm auf g1 – obwohl die Regeln des klassischen wie des Fischerschachs die Rochade doch klipp und klar als Königszug definieren.

Der das Geschehen beobachtende Schiedsrichter greift ein und unterbricht die Partie, worauf Nepomnjaschtschi wortreich zu erklären beginnt, dass sein auf h1 postierter weißfeldriger Läufer ihm nicht ausreichend Platz für eine regelkonforme Rochade gelassen habe. Während Wesley So sich über den Vorfall amüsiert, weist der Schiedsrichter nach kurzer Beratung mit seinen Kollegen Nepomnjaschtschis Ausrede zurück und verfügt, dass die Partie mit einem Turmzug des Weißen (berührt, geführt) fortzusetzen ist.

Die Entscheidung ist völlig korrekt, passt aber den beiden Spielern nicht: So, der nicht auf diese Weise gewinnen will, bietet seinem nun auf Verlust stehenden Gegner wenige Züge später Remis an. Der akzeptiert, nur um gleich danach formal gegen die Schiedsrichterentscheidung zu berufen. Also muss das Schlichtungskomitee anrücken, und dieses entscheidet – zugunsten des Russen!

Alles zurück zum Start, Nepomnjaschtschi und So wiederholen ihre Partie mit gleicher Farbverteilung. Und wie endet sie, nach taktischen Feuerwerken und einer zwischenzeitlich klar gewonnenen Position für Nepomnjaschtschi? Remis.

Blitzen entfällt

Ein symptomatisches Ergebnis für dieses zweite Halbfinale, in dem Jan Nepomnjaschtschi zwar selbstbewusst und aggressiv agiert, bessere bis gewonnene Stellungen aber immer wieder herschenkt, während So ruhig Punkt um Punkt erntet. In der dritten 15-Minuten-Partie wehrt der US-Amerikaner einmal mehr alle Gewinnversuche seines Konkurrenten ab und entscheidet das Match damit äußerst frühzeitig mit 13:5 für sich. Die letzte Schnellpartie sowie die vier angehängten Blitzpartien entfallen, So steht als Erster im Finale der Fischerschach-WM.

Nur eine Partie länger braucht der Weltmeister im klassischen Schach, um seinen Finalplatz zu buchen: In einer turbulenten vierten 15-Minuten-Partie opfert Fabiano Caruana, der dringend einen Sieg benötigt, mit Schwarz schon in der Eröffnung einen Bauern. Gerade als der Italoamerikaner genug Kompensation zu bekommen scheint, lässt Magnus Carlsen seinen Springer mit Opferabsicht in die schwarze Bauernstellung krachen. "Mein Gefühl hat mir gesagt, dass ich hier nicht verlieren kann", sagt Carlsen später. Und er verliert nicht, er gewinnt. Mit 12,5:7,5 zieht der Weltmeister ins erste offizielle Finale einer Fischerschach-WM ein, in dem ihn Wesley So erwartet.

Amor vincit omnia

Im Nachgang zeigt sich Carlsen begeistert von der Lebendigkeit der bisher gespielten Partien und erzählt, dass alle Topspieler inzwischen große Fans der noch jungen Spielform seien. Mit Bezug auf die zweite 15-Minuten-Partie, in der der Weltmeister seinen Gegner mit Schwarz aus der Eröffnung heraus mit einem wuchtigen Königsangriff niederstreckte, kommt Carlsen gar ins Schwärmen: "Ich habe mir wirklich gedacht, das ist der Grund, warum wir Fischer Random spielen. Du spielst g5, h5 und hast plötzlich eine großartige Stellung. Das fügt eine neue Dimension hinzu. Und deshalb hat dieses Spiel ein Lebensrecht auf allerhöchstem Niveau."

Ab Donnerstag, 17.30 Uhr entscheidet sich in einem auf drei Tage anberaumten Finale, wer der erste offizielle Fischerschach-Weltmeister der Schachgeschichte wird. Wobei Magnus Carlsen, will er diesen Titel auch noch kassieren, einen Gegner bezwingen muss, der Fischer Random noch mehr zu lieben scheint als er selbst: "Ich ziehe es normalem Schach vor", hatte Wesley So jüngst erklärt. Ob es genügt, um gegen Carlsen Weltmeister zu werden? (Anatol Vitouch aus Oslo, 31.10.2019)