Das Nordbahnviertel ist derzeit eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Wiens. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2015.

Foto: maria von usslar

Viel Zeit bleibt den Hauptstadtgenossen nicht mehr, um den Dampfer in die richtige Richtung zu lenken. Egal ob die Wahl in Wien 2020 vom geplanten Herbsttermin in den Frühling vorgezogen wird oder nicht, es bleiben nurmehr ein paar Monate zur Vorbereitung auf den Intensivwahlkampf. Während alle Augen gerade auf die Koalitionsverhandlungen zwischen Türkis und Grün im Bund gerichtet sind, gibt es für die Wiener SPÖ derzeit einiges zu verdauen.

Es war ein schmerzlich buntes Bild, das die Karte Wiens nach der Wahl abgab: Der türkise Kern wird nun von einem grünen Ring umschlossen, überhaupt wurde die SPÖ nurmehr in acht Bezirken stimmenstärkste Partei. Demgegenüber konnten die Grünen in zehn Bezirken auf Platz eins klettern, die ÖVP schaffte fünf. Wie sehr bröckelt das rote Bollwerk im Osten? Und was kann das Wahlergebnis eines Bezirks wie der Leopoldstadt, der in vielerlei Hinsicht Durchschnitt ist, in Hinblick auf die Wien-Wahl erzählen?

Warnsignal für Wien-Wahl

Christoph Zich hat ein Lächeln aufgesetzt. Es wirkt ein wenig bemüht: Denn wenn alles nach Plan gelaufen wäre, würde Zich sich jetzt mit den Herausforderungen eines Neo-Parlamentariers auseinandersetzen, anstatt Misserfolge im Bezirk zu analysieren. Fast elf Prozentpunkte verlor die SPÖ hier, während die Grünen um satte 19 Prozent zulegen konnten.

Der 41-Jährige ist SP-Klubvorsitzender im zweiten Bezirk und war Spitzenkandidat für den Regionalwahlkreis bei der Nationalratswahl. Es war ein vielgerühmtes Fixmandat, das der SPÖ dort verlorenging.

Wie ist das passiert? "Mit vorgezogenen Wahlen haben wir nicht gerechnet", sagt Zich und rührt in seinem Kaffee. "Eher haben wir geglaubt, dass wir in Wien früher wählen werden." Und die Wähler würden stark zwischen den verschiedenen Ebenen unterscheiden, meint der Regionalpolitiker. Das stimmt: Es darf angenommen werden, dass das Ausmaß des Verlusts nicht eins zu eins auf die Wien-Wahl durchschlagen wird. Als Warnsignal taugt es aber allemal. Denn die Verluste in Wien lagen über dem Bundesschnitt.

Der SPÖ kommen die Wähler jedenfalls an allen Ecken und Enden abhanden, in Wien vor allem auch in Richtung Grün. Eine Chance für die Partei könnte sich dann ergeben, wenn es zu Türkis-Grün im Bund kommt und die Wiener Grünen unter Rechtfertigungsdruck für Bundesprojekte geraten. Aber auch dann ist nicht in Stein gemeißelt, dass die SPÖ davon profitieren kann. Geht es bei der Wien-Wahl ums Überleben der SPÖ? "Das sicher auch", sagt Zich.

Bei einem Streifzug durch die Leopoldstadt lässt sich erahnen, wie es um die Zufriedenheit mit der SPÖ steht. In mehrerlei Hinsicht ist der Bezirk mit etwa 100.000 Einwohnern eine Miniaturausgabe von Wien: Laut Bevölkerungsprognose wird er in den nächsten zwei Jahrzehnten gleich stark wachsen wie die gesamte Stadt – um etwa zehn Prozent. Hier wohnen prozentuell gesehen genauso viele Menschen, deren höchster Bildungsabschluss der einer Pflichtschule ist, wie in Gesamt-Wien. Das Jahreseinkommen entspricht ebenfalls dem Wiener Durchschnitt.

Wofür steht die SPÖ?

Über dem Durchschnitt liegt aber der Anteil der Akademiker, zudem ist der Bezirk vergleichsweise jung. Spricht man mit Bewohnern rund um den Karmelitermarkt, einen der Bobo-Hotspots schlechthin, hört man unzählige Sätze wie: "Ich wähle abwechselnd Rot oder Grün. Von der SPÖ kommen aber keine klaren Aussagen." Oder: "Ich wähle nur aus taktischen Gründen Rot." Ein junger Mann Ende 30 entschied sich bei der letzten Nationalratswahl "aus Mitleid" für die SPÖ.

Andere Töne vernimmt man in der Gegend um das Stadioncenter, wo weniger Grün-Affine anzutreffen sind. Ein Mann um die 50 sagt, er habe jahrelang SPÖ gewählt, macht nun aber schon länger bei den Blauen sein Kreuz. In seinem Freundeskreis seien mittlerweile viele Nichtwähler, was er auch verstehen könne. Was alle eint: Sie wünschen sich ein kantigeres Auftreten der SPÖ, vor allem in sozialen Fragen.

"Immer wenn ich versucht habe, über Mindestlohn oder Pensionen zu sprechen, ist es wieder ums Klima gegangen", sagt Zich. Er selbst wohnt im Nordbahnviertel, einem der größten aktuellen Stadtentwicklungsgebiete. Es gilt als ein Prestigeprojekt der rot-grünen Stadtregierung. Viele assoziieren das Projekt mehr mit den Grünen als mit der SPÖ. Spaziert Zich durch die Nachbarschaft, begrüßen ihn viele mit Handschlag. "Heast, was passiert mit dem roten Wien?", fragt ihn einer im Vorbeigehen.

Man müsse mehr aufzeigen, wo man sich von anderen abgrenze, etwa im Bereich leistbares Wohnen, und in den nächsten Monaten Strategien für die Kommunikation entwickeln, sagt Zich. Die gilt es aber noch zu finden. In ein paar Tagen geht es auf Klausur: "Ich glaube ehrlich gesagt, dass viele derzeit ratlos sind." (Vanessa Gaigg, 14.11.2019)